Interview

René Girard: Warum kämpfen wir? Und wie können wir aufhören?

Der eine will, was der andere hat, weil dieser es hat: Unter Menschen herrscht mimetische Rivalität. Sie verbindet und trennt uns zugleich. Wie können wir damit umgehen? Macht Religion alles besser – oder bloss schlimmer? Der 2015 verstorbene Anthropologe René Girard, einer der führenden Denker unserer Zeit, antwortet im Gespräch auf Fragen, die ihn lebenslang beschäftigten.

Robert Pogue Harrison
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Eine Glaubensprüfung? Nein, eine Lehre in Sachen Menschlichkeit: So liest René Girard die Geschichte von Abraham und Isaak. Caravaggios Darstellung entstand um 1603. (Bild: PD)

Eine Glaubensprüfung? Nein, eine Lehre in Sachen Menschlichkeit: So liest René Girard die Geschichte von Abraham und Isaak. Caravaggios Darstellung entstand um 1603. (Bild: PD)

René Girard, beginnen wir mit der Religion. Sie sehen sie nicht als eine Ansammlung von Glaubensvorstellungen oder von Erklärungen für Welt und Kosmos, sondern vor allem als eine Reihe von Praktiken. Habe ich das recht verstanden?

Ja. Und diese Praktiken nennt man Ritual. Allen Menschen der Frühzeit galt das Ritual als unentbehrlich für das Überleben und das Wohlergehen des Kollektivs. Die ursprüngliche Form des Rituals ist die Tötung eines Opfers durch den Priester vor versammelter Gemeinschaft.

Dies ist essenziell für Ihre Theorie über das Entstehen des Rituals. Und es impliziert die Idee des Sündenbocks. Können Sie erklären, wie Sie vom Begriff des mimetischen Verlangens zu demjenigen des Sündenbock-Mechanismus gelangt sind?

Mimetisches Verlangen bedeutet, dass alle Menschen das Gleiche begehren. Wenn es zwei Leute nach einer Sache gelüstet, kommt bald ein Dritter dazu, und wenn es drei sind, stecken sie den Rest der Gemeinschaft an, immer schneller. So kommt es zu dem, was ich eine mimetische Krise nenne – dem Moment, da alle zugleich um etwas kämpfen. Sogar wenn dieser Gegenstand verschwindet, kämpfen sie weiter, weil es nur noch um die Obsession geht. Und dieser Konflikt droht am Ende die ganze Gemeinschaft zu zerstören.

Wie kann der Gewaltkreislauf unterbrochen werden?

Meine Antwort ist, dass immer mehr Menschen einen unter ihnen für das ganze Unheil verantwortlich machen. In anderen Worten, die mimetische Ansteckung verlagert sich vom Wunschobjekt auf ein bestimmtes Opfer. Jeder wendet sich gegen das Opfer, und am Ende wird es . . . im Englischen würde man sagen: gelyncht.

Was allerdings nur ein weiterer Gewaltakt ist.

Gewiss, aber das Lynchen des Opfers, eines einzigen Opfers, söhnt die Gemeinschaft aus, indem sie sich geschlossen gegen das Opfer wendet. In jenem Moment wird es von allen gehasst, weil man ihm die Schuld für den Konflikt zuschiebt. Aber sobald dieser aus dem Weg geräumt ist, wird man das Opfer verehren – als denjenigen, der den Konflikt gelöst hat. Meiner Ansicht nach liegt der wichtigste Wesenszug archaischer Gottheiten darin, dass sie zugleich gut und böse sind.

«Religiöse Phänomene sind überall gleich, und irgendwie hat die Theorie dem nicht Rechnung getragen.»

Können Sie das noch genauer erklären?

Diese Dualität ist sehr wichtig – sie deutet darauf hin, dass sich im Opfer der Sündenbock der Gemeinschaft verbirgt. Mit anderen Worten: Der Sündenbock trägt faktisch keinerlei Schuld, sondern er wird durch den Prozess der mimetischen Ansteckung auserkoren. Darum wird er zuerst als schuldig angesehen und dann als Retter, als Gott.

Das hiesse also, dass die Ermordung – das Lynchen – eines Sündenbocks die wahre, verborgene Grundlage jeder archaischen Religion ist. Sie sehen dies als Universalie an.

Die Darbringung von Opfern ist anerkanntermassen das zentrale Element aller archaischen Religionen. Wir wissen von keiner, die ohne Opfer auskommt.

Umfassendes Wissen, kühne Vision

r. p. h. · René Girard (1923–2015) war einer der führenden Denker unserer Zeit. Unterschiedlichste Disziplinen konvergieren in seinem Œuvre: Geschichte, Anthropologie, Psychologie und Soziologie so gut wie Philosophie, Theologie und Religionswissenschaften. So überwand er etablierte Vorstellungen und Ismen und gelangte zu einer kühnen, umfassenden Sicht auf die Natur, die Geschichte und das Schicksal des Menschen. Er begann seine Arbeit in den 1960er Jahren mit einer neuen Konzeption des menschlichen Verlangens: Unsere Wünsche, schrieb er, sind nicht unser eigen, sondern sie sind «mimetisch». Als soziale Wesen lernen wir von anderen, was begehrenswert für uns selbst ist. Ausgehend von diesem Gedanken schrieb Girard über Imitation, Neid, Wettbewerb und Gewalt, über Sündenböcke, Rituale, Opfer und Krieg.

Aber das, wovon wir eben sprachen – das ist kein Opfer.

Stimmt. Aber das Sündenbock-Phänomen ist die Grundlage des Opfers. Eine Gemeinschaft, die sich durch die Tötung des Sündenbocks versöhnt hat, wird bald einmal von neuen Rivalitäten heimgesucht. Und was dann? Man wird sich erinnern, dass jenes eine Opfer damals den Frieden zurückgebracht hat. So wird man wieder ein Opfer auswählen und es auf die gleiche Art töten wie das erste – nur diesmal nicht hysterisch . . .

. . . sondern in der Form eines Rituals.

Richtig. Was die Anthropologen bei dieser Ritualisierung der Gewalt erstaunt, ist die Tatsache, dass dem Opferritual üblicherweise ein kollektiver Absturz in die Gewalt voraufgeht. Sie verstehen nicht, warum es einen weiteren Zerstörungsakt braucht, um die Zerstörung zu beenden. Aber faktisch wird dabei ein früherer Prozess von Krisis und Auflösung wiederholt – genau darin besteht das Ritual. Und es funktioniert.

Aber womit lässt sich beweisen, dass dem Ritual a priori ein Lynchmord voraufgeht?

Durch das Ritual selbst und durch die Mythen. Wenn Sie Mythen genau anschauen, dann entdecken Sie immer wieder Geschichten von irgendeinem Übeltäter, der ein Gemeinwesen in Unruhe versetzt, der dann vom Kollektiv bestraft wird und sich nachträglich als Gottheit entpuppt. Doch hier liegt ein Missverständnis über den gemeinschaftsbildenden Prozess.

Wo genau liegt das Missverständnis? In den Geschichten, die über diesen Prozess erzählt werden?

Nein, darin, dass die Leute glauben, das Opfer sei wirklich schuldig. Gesellschaften, die einem Opferkult huldigen, zeichnen sich durch den Glauben aus, dass ein Gott zugleich gut und böse sein kann; dass er die Gemeinschaft ins Unglück stürzt, um sie zu bestrafen, und sie dann durch sein Wirken errettet.

«In Afrika existierten Formen des sakralen Herrschertums, die genau wie der Ödipus-Mythos waren.»

Wie sind Sie überhaupt auf Ihre Theorie gekommen?

Ich las die Berichte britischer Anthropologen, die in den Kronkolonien geforscht hatten. Dabei sieht man, dass religiöse Phänomene überall gleich sind, und irgendwie hat die Theorie dem nicht Rechnung getragen. Man erzählt mit dem gleichen Vokabular die gleichen Dinge über Phänomene, die sich ständig wiederholen, doch es scheint nicht möglich, sie in eine Theorie einzubinden. Aber ich bin absolut sicher, dass es eine korrekte Theorie über diese Fakten gibt.

An welche Mythen denken Sie genau? An die archaischen, die ältesten?

Gewiss. Wir kennen nicht allzu viele Mythen von diesen wirklich archaischen Gesellschaften, denn für westliche Menschen des 19. Jahrhunderts war es äusserst schwierig, die Indigenen dazu zu bringen, ihre Mythen auf verständliche Weise zu erzählen. Aber wir haben genug Material, um zu erkennen, dass das alles missverstandene Sündenbock-Geschichten waren.

Nehmen wir eine davon. Der Ödipus-Mythos war essenziell für Freud, er hat seine ganze Theorie des Unbewussten darauf gegründet. Aber Sie haben Ihre eigene Lesart dieses Mythos.

Eine Seuche ging damals um, sie wird in der Tragödie beschrieben. Wahrscheinlich existierte in jener Gesellschaft auch das Gottkönigtum; der König musste also schuldig werden wie ein Gott. Er musste Inzest begehen und Vatermord.

Aber was haben ausgerechnet diese Vergehen mit sozialer Ordnung zu tun?

Zu Beginn der Kolonialzeit sahen wir mit eigenen Augen, dass in Afrika Formen des sakralen Herrschertums existierten, die genau wie der Ödipus-Mythos waren. Wurde jemand zum König bestimmt, dann nötigte man ihn, mit seiner Schwester oder Mutter Inzest zu begehen. Man sagte ihm, das müsse sein, denn so könne er sein Volk in Furcht versetzen und glauben machen, dass er sowohl gefährlich als auch ein Erlöser sei – genau wie ein mythischer Held.

«Wenn Jesus sagt: ‹Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun›, dann müssen wir das wörtlich nehmen. Es ist keine Bitte um Mitleid für diese armen, verwirrten Menschen.»

In Ihrem Buch «Das Heilige und die Gewalt» beschreiben Sie Gewalt als eine notwendige Ausprägung des Heiligen in frühen Gesellschaften. Die beiden Elemente kommen jedoch auf eine Art und Weise zusammen, die den Gesellschaften letztlich gestattet, solche Krisen zu überleben.

Und es gibt Beweise, dass das stimmt. Sogar ein so intelligenter und moderner Denker wie Aristoteles dachte, dass der tragische Held, der am Schluss getötet wird, auf fundamentale Weise schuldig war. Mit anderen Worten beschreibt «hamartia» eine mythische Schuld – eine, die niemand je wirklich identifiziert hat. Es ist die Schuld des Ödipus.

Betrachten wir dieses Konzept der «hamartia» nun im Kontext des Tanach, der hebräischen Bibel. Sie lokalisieren in diesen Schriften den Beginn einer Demystifizierung des Mythos und der gewaltsamen Ursprünge des Heiligen.

Der Kerntext des Tanach ist, von dieser Warte aus gesehen, der zweite, wesentlich später verfasste Teil des Buches Jesaja. Dort findet man die berühmten Lieder des «leidenden Gottesknechts». Dieser ist ein sehr guter, aber sehr schwacher Prophet – einer der Menschen, die unbeliebt sind und auf die andere ohne jeden Grund losgehen. Der Gottesknecht wird am Ende vom Volk umgebracht, gelyncht sozusagen; manche sehen darin ein Vorbild für die Passion Christi.

Und was zeichnet diese Episode aus?

Es ist der Umsturz der Mythologie, die Aufdeckung dessen, worum es der Mythologie geht, und dies geschieht zum ersten Mal innerhalb eines mythischen Texts. Das Opfer wird von allen gehasst, die Menschen töten es und begehen einen Fehler. Wie im Neuen Testament. Wenn Jesus sagt: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun», dann müssen wir das wörtlich nehmen. Es ist kein Ausdruck des Erbarmens, keine Bitte um Mitleid für diese armen, verwirrten Menschen. Es ist die Offenbarung dessen, was Sache ist. Diese Menschen glauben wirklich, dass der Sündenbock schuldig ist.

«Wer kann da noch behaupten, dass es nicht der Sündenbock ist, auf dem die Gesellschaft gründet?»

Wir kommen gleich zum Neuen Testament. Aber vorher möchte ich noch über Abraham und Isaak sprechen.

Das geht natürlich viel weiter zurück als der «leidende Gottesknecht». Das Interessante an der Bibel ist, dass sie sich immer weiter vom Gewaltsamen, Archaischen wegentwickelt. Als Abraham Gottes Ruf hörte, war das Kindesopfer noch weit verbreitet. Und ich lese diese Stelle der Bibel nicht wie Kierkegaard, der darin eine Glaubensprüfung sieht, die Gott Abraham auferlegt. Das ist eine sehr moderne Lesart, die keinerlei Bezug zum archaischen Text hat. Vielmehr ist die Geschichte von Abraham und Isaak das einzige Dokument in der Welt, das den Wechsel vom Menschenopfer zum Tieropfer nachzeichnet. Isaak wird durch den Widder ersetzt, und das stellt sich als Akt des göttlichen Willens dar.

Was nun das Neue Testament angeht: Trifft es zu, dass Sie es als endgültige Offenlegung des Sündenbock-Mechanismus in den älteren Religionen verstehen?

Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Unmittelbar vor der Passionsgeschichte spricht Jesus im Tempel zu den Hohepriestern und Ältesten und sagt: «Habt ihr nie gelesen in der Schrift: ‹Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden.›» Wer kann da noch behaupten, dass es nicht der Sündenbock ist, auf dem die Gesellschaft gründet? Diejenigen, die Jesus ansprach, haben diese Frage nie beantwortet. Die Theologen verlieren sich in allerhand griechischem Zeug, aber darauf sind sie nie eingegangen.

Und wie würden Sie antworten, wenn Theologen Sie nach dem heilsgeschichtlichen Aspekt der Passionsgeschichte fragten?

Faktisch gibt es gar keine offizielle Theorie zur Erlösung, darüber, wie das Kreuz funktioniert. Spekulieren ist also erlaubt. Aber ich befasse mich nicht mit Theologie, sondern mit der Anthropologie der Religion. Und ich glaube, Theologen und Anthropologen machen denselben Fehler: Sie sehen nicht, dass sie in unterschiedlichen Sprachen über das Gleiche reden.

René Girard, fotografiert 2008 in Stanford (Bild: Linda A. Cicero / Stanford News)

René Girard, fotografiert 2008 in Stanford (Bild: Linda A. Cicero / Stanford News)

1966 wurde Heidegger gefragt, was Philosophen tun können, um dem Nihilismus oder den destruktiven Kräften der Technologie zu begegnen und der Welt wieder ein menschliches Antlitz zu geben. Er antwortete, dass dies weder in der Macht der Philosophie noch in der irgendeines Menschen stehe: «Nur ein Gott . . .»

Nur ein Gott.

«. . . kann uns retten.»

Und was die moderne Welt gewiss nicht hervorbringen wird, ist ein neuer Gott. Was Heidegger hier in gewissem Sinn behauptet, ist, dass Judentum und Christentum der langen Folge der archaischen Götter kein Ende gesetzt haben – mit anderen Worten die dahinterstehende Lüge nicht als solche kenntlich gemacht haben. Das bedeutet, dass es neue archaische Götter geben kann: Davon hat Heidegger geredet. Es bedeutet, dass wir, wenn wir weiterhin so gewalttätig sind, die Zerstörung der Welt riskieren.

«Die wahre Göttlichkeit, das wirklich Heilige wird aus der Entsakralisierung kommen.»

Und das finden Sie gut?

Darum geht es nicht. Aber die christlichen und jüdischen Schriften enthalten apokalyptisches Material, das nicht von der Zerstörung der Welt durch Gott handelt, wie die Fundamentalisten glauben, sondern von der Zerstörung der Welt durch den Menschen. Wenn Sie die grossen apokalyptischen Kapitel in den Evangelien lesen, die viel wichtiger sind als die Offenbarung des Johannes, dann werden Sie sehen, dass es um eine zunehmend gewalttätige Welt geht, die sich am Ende zerstört. Dafür ist nicht Gott verantwortlich, wie heute gesagt wird. Diese Texte müssten wiederbelebt werden; es ist ein grosser Fehler der Kirchen, dass sie nicht darüber sprechen.

Heidegger sagt: «Nur ein Gott kann uns retten.» Und ihre Antwort wäre, dass nur wir selbst uns retten können?

Nur wir selbst können uns retten. Ich denke viel humanistischer als er.

Haben Sie auch Rezepte, wie wir uns selber helfen könnten?

Das Rezept, welches das Fundament des Evangeliums ist: Verzicht auf Rache, Frieden. Wenn man keine Opfer darbringen kann, um wieder Frieden zu schaffen, dann müssen wir das selber tun, und wir kennen das Rezept. Es ist sehr schwierig. Es bedeutet, auf Rache zu verzichten. Es bedeutet, die Regeln einzuhalten, die von den synoptischen Evangelien – Markus, Matthäus und Lukas – als die Regeln definiert werden, die im Reich Gottes gelten.

Heideggers Worte verweisen auch darauf, dass wir in einer gänzlich entsakralisierten Welt leben und dass ein Gott diese Dimension des Heiligen zurückbrächte.

Ja.

Glauben Sie, dass den Menschen in einer Welt, die das Heilige nicht kennt, eigentlich ganz wohl ist?

«Heilig» ist ein Wort, das ich lieber nicht verwende. Aber meine Antwort auf Ihre Frage lautet: Ja. Und die wahre Göttlichkeit, das wirklich Heilige wird aus der Entsakralisierung kommen. Die Sakralisierung, die Heidegger fordert, ist eine Rückkehr zum Archaischen, und das ist ihm klar. Deshalb weiss er auch, dass es unmöglich ist.

Und was wäre die Alternative?

Das Moderne ist, entgegen Heideggers Auffassung, nicht schlecht. Es ist die Schlechtigkeit der Menschen, die es schlecht werden lässt; aber an sich ist es gut. Es ist eine Entwicklung, die dem Menschen mehr Intelligenz, mehr Menschlichkeit bringt – denn allen negativen Aspekten der Welt zum Trotz ist unsere Welt in vieler Hinsicht die beste, die wir je gekannt haben. Darum ist es diese Welt, die gerettet werden muss. Und sie kann nur gerettet werden, wenn die Menschen besser miteinander auskommen.

Das ist leicht gesagt, aber . . .

Oh, ich sage nicht, dass es leicht ist. Wahrscheinlich wird es nicht geschehen.

Nochmals: Welche Rezepte haben Sie?

Rezepte gibt es keine. Es kann keine geben. Darum beginnen die Evangelien mit dem Reich Gottes, dem Angebot dieses Reichs, und mit dem Versuch, die Menschen von der Notwendigkeit des Verzichts auf Rache zu überzeugen.

«Faktisch war es das Wirken der Religion, das die Aufklärung erst möglich gemacht hat.»

Ist die christliche Lehre der einzige Weg zu dieser Einsicht?

Die Texte, auf die ich mich beziehe, schliessen die jüdische Bibel und die Bücher der Propheten ein – und die Evangelien; diese sind wirklich unentbehrlich. Nötig wäre, dass wir die theologische Lesart durch eine anthropologische ergänzen, welche die Schriften auf menschlicher Ebene verständlich macht. Das ist sehr schwierig, weil sich die Leute nicht dafür interessieren, es vielmehr sogar abwehren. Meiner Ansicht nach ist dies das wahre Unbewusste, der eigentliche Abwehrmechanismus – diese Weigerung, unsere eigene Gewalttätigkeit zu erkennen. Insbesondere im nationalen und internationalen Diskurs, wo es immer eine andere Partei gibt, die man beleidigen, verleumden und zum Sündenbock machen kann.

Wo steht die Aufklärung innerhalb der Traditionen, über die wir uns unterhalten haben?

Das ist eine komplexe Frage. Zur Zeit der Aufklärung verstanden die Menschen vieles von der christlichen Lehre, das nicht spezifisch religiöser Natur ist, sondern gute zwischenmenschliche Beziehungen betrifft. Sie waren überzeugt, dass sich diese Beziehungen herstellen lassen, ganz einfach, weil die Menschen gut oder guten Willens sind. Und aus diesem Grund haben wir heute einen verfälschten Blick auf die Anthropologie.

Können Sie das ausführen?

Wir glauben, dass die Aufklärung, die Entdeckung, dass der Mensch gut ist, sich gegen die Religion durchsetzen musste, die eine solche Sichtweise nicht zuliess. Faktisch war es jedoch das Wirken der Religion, das die Aufklärung erst möglich gemacht hat. Aber dieser Aspekt wird ausgeblendet. Wenn die Aufklärer sagen: «Der Mensch ist eigentlich gut, aber die Religion hindert ihn daran», dann entspricht das ihrem Bild der Realität. Aber dieses Bild ist falsch, weil sie die Geschichte nicht verstehen; weil sie nicht begreifen, dass sie erst zu ihrem Standpunkt gekommen sind, weil – in gewissem Sinn – der Akt des Opferns sie ganz langsam besser gemacht hat. Sie machen sich ziemliche Illusionen darüber, wie gut sie sind.

Aber wenn wir selber für unsere sozialen und existenziellen Missstände verantwortlich sind und uns auch selber retten müssen – dann war die Aufklärung doch gerade auch ein Aufruf zu dieser Selbstverantwortung.

Ja. Und das ist gut. Voltaire hat zweifellos recht, wenn er sagt, dass er mit seinem Eintreten für Jean Calas christlicher gehandelt habe als seine christlichen Gegner. Auch die Kirchen sind inzwischen an diesem Punkt angelangt. Wir sollten uns hüten, hier in Ja-oder-Nein-Kategorien zu denken. Geschichte ist niemals so einfach.

Das hier in gekürzter Fassung abgedruckte Gespräch mit René Girard führte der in Stanford lehrende Italianist und Kulturphilosoph Robert Pogue Harrison im Jahr 2005 für seine Radiosendung «Entitled Opinions». Das Gespräch ist Teil der 2020 erscheinenden Sammlung «Conversations with René Girard», herausgegeben von Cynthia L. Haven, Bloombury-Verlag, London. Aus dem Englischen von as.