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Sebastian Gallander

Stadtplanung Holt das Dorf in die City

Sebastian Gallander
Ein Gastbeitrag von Sebastian Gallander
Jetzt ist der Moment, unsere Städte neu zu erfinden. Dies könnte nicht nur zum Klimaschutz beitragen, sondern auch zum gesellschaftlichen Zusammenhalt.
»Bergmannstraßenfest« in Berlin-Kreuzberg, Juni 2019

»Bergmannstraßenfest« in Berlin-Kreuzberg, Juni 2019

Foto: Müller-Stauffenberg / imago images

Die Aussicht auf eine Zeit ohne Corona und mit einer neuen Bundesregierung ermutigt zu frischem Denken: Viele Menschen wollen nicht in die alte Arbeitswelt zurück, sondern zumindest einige Tage pro Woche weiter im Homeoffice arbeiten, und viele Arbeitgeber wollen dann sicher einen Teil ihrer teuren innerstädtischen Büroflächen einsparen. Es ist also wahrscheinlich nicht sinnvoll, sich weiter an das frühere Modell der Innenstädte zu klammern. Zumal diese ohnehin seit Jahren darunter litten, dass sie immer mehr von den gleichen Ladenketten bestimmt wurden und abends nach Geschäftsschluss wie ausgestorben wirkten. Dies lenkt den Blick auf die anderen Stadtteile, in denen künftig viele Menschen nicht mehr nur zum Schlafen, sondern auch tagsüber zum Arbeiten sein werden. So setzen nun weltweit immer mehr Städte auf eine Idee, die bereits vor Corona besonders von der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo vorangetrieben wurde: die 15-Minuten-Stadt.

In der 15-Minuten-Stadt sollte jede Bürger:in möglichst all ihre täglichen Anliegen innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder per Rad erreichen können. Hierfür braucht es in jedem Stadtteil beispielsweise genügend Geschäfte, Gesundheitszentren, Co-Workingspaces, Gemeinschaftshäuser, soziale Einrichtungen, Cafés und Restaurants. Sinngemäß spricht man bei diesem Ansatz deshalb auch von einer Stadt aus vollwertigen Nachbarschaften. Diese sollten zugleich so gestaltet sein, dass Menschen sich gern darin aufhalten: einladende öffentliche Räume, weniger Autoparkplätze, mehr Bäume – und vor allem viel fußgänger- und fahrradfreundlicher. Insgesamt ließe sich dadurch der innerstädtische Verkehr und somit der CO2-Ausstoß stark reduzieren. Doch es geht hierbei nicht nur um den Klimaschutz.

Vielmehr geht es hier auch um eine andere große Herausforderung, für die die Politik gerade händeringend nach Antworten sucht: den sozialen Zusammenhalt. Für den sozialen Zusammenhalt braucht es eine soziale Infrastruktur. Wie entscheidend, ja sogar überlebenswichtig dieser Zusammenhang sein kann, zeigt die aktuelle Forschung des amerikanischen Soziologen Eric Klinenberg. Er untersuchte in Chicago die extreme Hitzewelle, die Mitte der Neunzigerjahre über 700 Menschenleben gekostet hatte, und machte dabei eine erstaunliche Entdeckung.

Für den sozialen Zusammenhalt braucht es eine soziale Infrastruktur.

Die Opferzahlen variierten stark nach Stadtteilen. Eine nahe liegende Erklärung waren unterschiedlich starke Stromausfälle für die Klimaanlagen, doch diese gab es überall in der gesamten Stadt. Auch das Wohlstandsgefälle zwischen den Stadtteilen konnte die unterschiedlichen Todesraten nicht allein erklären. In einigen der ärmsten Gegenden waren sie zwar besonders hoch, aber in einigen von ihnen auch besonders gering. Also ging Eric Klinenberg in zwei Stadtteile, die auf dem Papier sehr ähnlich aussehen mochten, aber durch die Hitzewelle sehr unterschiedlich hindurchkamen. Was er dort fand, beschreibt er wie zwei verschiedene Welten.

Der eine wirkte wie verlassen. Verwilderte Brachflächen, vernagelte Häuser, kaputte Gehwege – alles, was Menschen davon abhält, nach draußen zu gehen und Kontakte zu anderen Menschen im Quartier aufzubauen. Viele von ihnen lebten offensichtlich sehr isoliert, besonders die Älteren. Während der Hitzewelle verbargen sie sich in ihren Wohnungen, die jedoch zu Glutöfen wurden. Dabei mangelte es eigentlich nicht an Wasser und bereitstehenden klimatisierten Orten, sondern an nachbarschaftlichen Beziehungen, bei denen der eine mal nach dem anderen schaut. Die Todesrate hier zählte zu den höchsten in der ganzen Stadt. Ganz anders war es in dem zweiten Stadtteil.

Dieser war ebenfalls sehr arm, aber es gab Läden, Restaurants, soziale Organisationen und Kirchen. Die Straßen waren belebt, ältere Menschen gehörten Nachbarschaftsvereinen an, und die Bewohner:innen versicherten, sie wussten, auf wen sie in der Hitzewelle achtgeben mussten. Die Überlebensrate war hier sogar deutlich höher als in vielen der wohlhabenderen Gegenden der Stadt. Was lässt sich daraus lernen?

Unabhängig von solchen Notsituationen wie extremen Hitzewellen – auf die wir uns aber auch in Deutschland künftig wohl mehr einstellen müssen – oder gar einer Pandemie, gibt es eine klare Erkenntnis: Lebendige Stadtviertel und Quartiere, mit ansprechenden öffentlichen Plätzen, belebten Ladenzeilen sowie aktiven gemeinnützigen Einrichtungen sind eine Grundlage für ein gutes, solidarisches Miteinander. Auch weil der digitale Raum immer mehr vor Aggressivität überkocht und zu einem Hort der Spaltung wird, ist es umso wichtiger, den realen Raum als Ort des gesellschaftlichen Zusammenkommens zu stärken. Dies gilt es, mit der Zukunftsaufgabe Klimaschutz zu verbinden.

Dies könnte das große gemeinsame Projekt der neuen Bundesregierung werden. Jede Koalition wird ohnehin vor der Herausforderung stehen, die gesamte Gesellschaft in den Klimaschutz einzubinden. Hierbei wäre es ein zentraler Baustein, gemeinsam mit den Kommunen, »vollwertige Nachbarschaften« zu fördern, in denen es möglichst alles gibt, was man zum Leben und Arbeiten braucht – plus mehr Grün, Fahrradwege und Fußgängerzonen. Auch der wachsenden Zahl von älteren Menschen in unserer Gesellschaft könnte dies sehr helfen. Schließlich wäre dies auch ein großes Wiederaufbau- und Jobprogramm für die Wirtschaft – nicht für die globalen Konzerne, sondern die vielen kleinen lokalen Geschäfte, die schon seit Jahren unter der Amazonisierung des Handels leiden und nun durch die Coronakrise erst recht dringend einen neuen Schub bräuchten.

Viele Menschen sind sogar schon einen Schritt weiter: Beim Deutschen Nachbarschaftspreis beteiligen sich jedes Jahr fast 1000 freiwillige Initiativen, die sich überall im Land für ihre Nachbarschaft und dabei oft für mehr Nachhaltigkeit engagieren. Jetzt sollte die Politik diese Energie aufgreifen. Jetzt ist die Zeit für eine grüne Nachbarschaftswende.