Identitätspolitik: Woke und weltfremd

Weiß, männlich, nicht erkennbar schwul und trotzdem nicht privilegiert: Für manche Linke fallen sie durch jedes Raster. Foto: Aleš Kartal auf Pixabay (Public Domain)

Wer sich heute politisch links einordnet, muss sich einer ernüchternden Realität stellen: Mit der Identitätspolitik zerstören Linke gerade ihr eigenes Wertefundament. Ein Kommentar

Ich war einmal ein Linker. Ich sage es ohne Scham und ganz unbefangen, so wie man über private Dinge spricht, wenn sie schon längst hinter einem liegen. Wenn man nichts mehr damit zu tun hat. Links sein, das bedeutete für mich, für soziale Gerechtigkeit einzustehen, für Chancengleichheit, für Gleichberechtigung und, wo es sein musste, für Umverteilung. Von oben nach unten, versteht sich.

Links standen für mich diejenigen, die in ihrem Gegenüber jenseits aller Distinktionsmerkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Kontostand erst einmal den Menschen sahen. Während Rechte in starren Hierarchien dachten, die sie im besten Fall durch wirtschaftlichen Erfolg und im schlimmsten Fall durch Rasse begründeten, sahen Linke nur unterschiedliche Personen mit gleichen Rechten. Dahinter stand die so triviale wie folgenreiche Einsicht, dass ein Mensch auch Jude oder Afghane, weiblich oder homosexuell, beeinträchtigt oder ungebildet oder auch alles zusammen sein kann, ohne dass dies seinen Wert als Menschen schmälern würde.

Linke Politik bestand folglich aus Maßnahmen und Visionen, die dieser humanistischen Grundhaltung entspringen. Gleichberechtigung und Chancengleichheit waren die zwei Hauptziele, denen Sozialdemokraten und gemäßigte Sozialisten entgegenarbeiteten. Mindestlöhne waren links, die Abschaffung von Schulgebühren war links, die gesetzliche Gleichstellung von Mann und Frau war links und so richtig links war auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Und heute?

Tribales Denken auf dem Vormarsch

Bemerkbar machte sich der Umbruch erst in den letzten fünf bis zehn Jahren. Vertritt man die obengenannten politischen Forderungen, reicht das inzwischen kaum noch aus, um als links durchzugehen. Man ist allenfalls altlinks. Einer oder eine, die beispielsweise stutzig wird, wenn die Diskussion um soziale Gerechtigkeit sich nicht mehr vordergründig um Mindestlöhne und Reichensteuern dreht, sondern darum, welche Begriffe und Bezeichnungen armen Menschen am ehesten gerecht werden, ohne herabwürdigend zu klingen. Unterprivilegiert, arm, sozial schwach, bildungsfern.

Ein Begriff wurde nach der Reihe eingeführt und wieder verworfen. Nur an der realen Not der Menschen änderte sich nichts. Handfeste Umverteilungsfragen, die zu Debatten über gerechte Löhne und Bildungschancen führen, spielen in linken Parteien der Gegenwart ohnehin kaum noch eine Rolle, am wenigsten bei den Sozialdemokraten. Gerhard Schröder in Deutschland, Tony Blair in Großbritannien und Matteo Renzi in Italien waren das Gesicht einer Wende im Mitte-Links-Lager, in deren Zuge soziale Gerechtigkeit zugunsten der Liberalisierung des Arbeitsmarkts und der Aushöhlung des Sozialstaats aufgegeben wurde.

Gleichzeitig schreiben sich links stehende und traditionell links verortete Parteien weiterhin den Wert der Gleichheit auf die Fahnen. Nur geht es jetzt nicht mehr um Gleichberechtigung und Chancengleichheit, sondern um gleiche Behandlung. Das ist ein großer Unterschied und hat die Art und Weise, wie linke Politik gemacht wird, radikal verändert. Am stärksten äußert sich die Wende in der aktuellen Rassismusdebatte. Ging es der Bürgerrechtsbewegung in den USA noch um gleiche Rechte für alle, steht jetzt, wo dieses Ziel zumindest für US-Bürger unabhängig von der Hautfarbe erreicht ist, die gleiche Behandlung im Alltag im Vordergrund. Gleiches gilt für europäische Länder.

Es geht um alltägliche Benachteiligungen bei Arbeits- und Wohnungssuche und um sogenannte Mikroaggressionen, also um Äußerungen, die womöglich gar nicht böse gemeint sind, aber als übergriffig und ausgrenzend wahrgenommen werden. Zum Beispiel "Wo kommen deine Eltern her?" oder "Wie gut du schon Deutsch sprichst!"

Dass über solche Diskriminierungen im Alltag aufgeklärt wird, ist freilich begrüßenswert. Das Problem entsteht dann, wenn aus dem zivilen Engagement gegen solche Ungleichbehandlungen im Alltag ein umfassendes politisches Programm gemacht wird. Genau das ermöglicht die Identitätspolitik, die heute bei den meisten Mitte-Links- und Linksparteien in westlichen Ländern betrieben wird.