Das Märchen vom Gendersterntaler

Identitätsaktivisten wollen überall eine gerechte Sprache durchsetzen. Aber gibt es so etwas überhaupt? Unser Autor hat genauer hingeschaut.

Eines erreicht man mit Gendern sicher: Das Lesen wird anstrengender.
Eines erreicht man mit Gendern sicher: Das Lesen wird anstrengender.Ana Galvañ

Die Welt, wie sie ist, scheint näher an der Hölle als am Paradies. Schmelzende Gletscher, strandende Öltanker, Epidemien. Auslöser all dessen ist eine zweibeinige Spezies, die sich seit Jahrtausenden bekriegt und unterdrückt. Und die trotzdem immer wieder idyllische Tupfer in dieses Bild zu setzen vermag. Unsere Gesellschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten große soziale und ethische Fortschritte gemacht. Sie wird liberaler, die Gleichberechtigung der Geschlechter wächst, die Menschen können sich in ihrer sexuellen Vielfalt immer offener zeigen.

Eine Sphäre dieses Fortschrittbemühens nennt sich Identitätspolitik. Diese Denkrichtung geht von der Benachteiligung einzelner Gruppen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe oder Herkunft aus, sie hat einen emanzipatorischen Kern. Aber sie hat auch Schattenseiten. An ihren Rändern sitzt das Gespenst einer Ideologie, die die Welt in wir und ihr teilt, die ein- und ausgrenzt, die Begriffe wie „transphob“ und „woke“ erfindet und Menschen damit kategorisiert. In jener Welt bin ich kein Ostdeutscher, kein Fußballfan, kein Tangotänzer, kein Journalist, kein Liebender, kein Sohn und Bruder. Dort bin ich ein „weißer Cis-Mann“.

Eines der Ziele der Identitätspolitik ist die Reinigung der Gesellschaft von allem, was als problematisch angesehen wird. Ging es anfangs um Statuen und Straßennamen, steht inzwischen auch der literarische Kanon im Fokus. Der „heteronormative Rassist“ William Shakespeare verschwindet in ersten amerikanischen Schulen vom Unterrichtsplan. Keine weiße Frau soll die Gedichte einer schwarzen übersetzen, kein Heterosexueller im Film einen Schwulen darstellen. „Wie konnten Linke ihre faszinierende Intelligenz, das Denken in Widersprüchen, verlernen?“, wundert sich der Dramaturg Bernd Stegemann und bezweifelt, dass es sich hier überhaupt noch um linkes Denken handelt.

Das in der identitätspolitischen Bewegung vorherrschende Gruppendenken scheint den einzelnen Menschen mehr und mehr aus dem Blick zu verlieren. „Wieviel Identität verträgt die Gesellschaft“, fragte kürzlich Wolfgang Thierse und geriet mit seiner offenen Frage in die Schusslinie jener Kräfte, die die SPD gerade von innen her auffressen.

Was hat das alles mit dem Genderstern zu tun?

Ich arbeite als Schlussredakteur im Berliner Verlag. In unseren Publikationen wie in der deutschen Medienlandschaft erlebe ich einen Sprachwandel in einem bislang unbekannten Ausmaß. Er nennt sich Gendern und zeigt sich in Umschreibungen, Doppelnennungen, Partizipien und typografischen Zeichen – etwa dem Asterisk als sogenanntem Genderstern.

Gendersprache ist die Takelage der Identitätspolitik. Sie soll helfen, eine Ungerechtigkeit aufzulösen, nämlich dass Frauen und diversgeschlechtliche Menschen im deutschen Satz unsichtbar seien. Aus feministischer Sicht ist die sprachliche Gleichstellung in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft überfällig. Die Geschlechter der Menschen in einer Erzählung sollen permanent offenbart oder – wo dies unmöglich ist – komplett maskiert werden.

Auf ihrer Suche nach degradierenden Strukturen im Deutschen ist die feministische Sprachkritik beim generischen Maskulinum (kurz: Genum) fündig geworden. Behauptet wird, diese grammatische Form sei eine Diskriminierung, da sie nur Männer abbilde. Stimmt das?

Der Mond ist nicht männlich, die Erde nicht weiblich, das Weltall nicht sächlich. Es gibt ein biologisches und ein grammatisches Geschlecht. Die beiden können sich überlagern, müssen es aber nicht: Der Feger (vom Verb „fegen“) hat nur ein grammatisches Geschlecht, ebenso der Schalter. Beim Wort „Bäcker“ hingegen ist ein Mensch der Bedeutungsträger; es bezeichnet den Berufsstand des Backhandwerks, lange Zeit vorwiegend betrieben von Männern mit weißen Mützen. Irgendwann schufteten auch Frauen in den Backstuben, das Wort „Bäckerin“ war von Anfang an als Femininum markiert. „Bäcker“ übernahm eine grammatische Doppelfunktion: maskulin und generisch.

Das Genum meint keinen mit, es meint alle

Mit dem Ursprung des Genum im Blick wird klar, warum es weder zwangsläufig noch auf jeden Menschen gleichermaßen männlich wirkt. Vielmehr changiert es zwischen den Geschlechtern. Wie oft im sprachlichen Verstehen spielt der Kontext eine Rolle, sonst könnte man nie Schloss, sondern müsste stets Tür-, Briefkasten- oder Fahrradschloss sagen. An wen denken Sie bei „die Täter“? An wen bei „eine Gruppe von Urlaubern“, an wen bei „die kleinen Stromer“. Und bei „Ärzte“? Ich assoziiere hier weiße Kittel oder eine Rockband. Das Genum ist ein Sprach-Chamäleon, das sich an unsere individuelle Vorstellungswelt anpasst. Das kann es nur deswegen, weil es unmarkiert ist, „geschlechterblind“, wie Sprachwissenschaftler bekräftigen und es 2018 auch der Bundesgerichtshof feststellte.

„Die potenzielle Mehrdeutigkeit maskuliner Nomen war und ist kein Problem“, sagt die Linguistin Ewa Trutkowski, „denn der sprachliche und außersprachliche Kontext reduziert die Auswahl unterschiedlicher Interpretationen meistens auf die eine wahrscheinlichste.“ Sämtliche Studien, die gegen das Genum ins Feld geführt werden, operieren ohne solche Kontextualisierungen. Frauen und Diverse sind nicht unsichtbar in der Sprache. Sie sind unsichtbar in manchen Köpfen.

Gendern als Königsweg zu mehr Gerechtigkeit? Unser Autor fühlt sich eher ans Bürokratensprech der DDR erinnert.
Gendern als Königsweg zu mehr Gerechtigkeit? Unser Autor fühlt sich eher ans Bürokratensprech der DDR erinnert.Ana Galvañ

Sprachlich entstammt die Bäckerin also dem Bäcker so wie Eva der Rippe Adams. Alle abgeleiteten in-Formen implodieren ohne das Grundwort. Eine echt feministische Linguistik hätte ihre Axt eigentlich an diese Endung setzen müssen, statt sprachliche Windmühlen zu bekämpfen. Wie es ohne -in geht, zeigen Wörter wie Liebling, Mitglied oder Koryphäe: Sie funktionieren völlig geschlechtsneutral.

Aber ist ein permanentes sprachliches Sichtbarmachen des biologischen Geschlechts überhaupt wünschenswert? Die Schriftstellerin Nele Pollatschek verneint dies: „Identität ständig anzuzeigen, diskriminiert“, sagt sie. Wo solle es hinführen, dass man ständig und überall markieren müsse, welchen Geschlechts man sei. Dies verstärke eine Sexualisierung in der Sprache, von der man sich in der Gesellschaft ja gerade frei machen wolle.

Wenn niemand markiert wird, wird niemand benachteiligt

Blind und taub für solche Überlegungen möchte Gendersprache das generische Maskulinum aus unseren Köpfen kegeln. Was aber leisten ihre Ersatzmittel für das inhaltliche Verständnis, wie verändern sie die Wirkung von Texten?

Genderdeutsch bürokratisiert die Alltagssprache, die dadurch präziser wirkt, an Umfang gewinnt und an Anschaulichkeit verliert. Anstelle konkreter Personen verwendete Partizipien lassen die Handelnden verschwimmen. Wen sehen Sie klarer vor sich: demonstrierende Studierende oder demonstrierende Studenten? Wo würden Sie eher bremsen: bei „Vorsicht Radfahrende“ oder „Vorsicht Radfahrer“?

Die häufig benutzte Doppelform erscheint inklusiver, aber der Eindruck trügt. Wenn es mit Genum heißt, „Die Finnen lieben den Tango“, stelle ich mir ein buntes Völkchen vor: dicke Männer, große Frauen, ein paar Jugendliche, Kinder gar, Opa und Oma. In dem Satz „Die Finninnen und Finnen lieben den Tango“ sehe ich nur noch Frauen und Männer in mittleren Jahren – keine Kinder, keine Jugendlichen und eigentlich auch keine alten Menschen mehr. Aus einem offenen Assoziationsraum ist eine geschlossene Achse geworden, auf der sich Männer und Frauen gegenüberzustehen scheinen. „Wo die Differenzierung eine ‚geeinte‘ Gruppe zerlegt, ist sie im besten Fall sinnlos“, sagt der ORF-Anchormann Tarek Leitner.

Die Doppelform verkleinert aber nicht nur die Menge der Mitgedachten, sie führt auch oft auf semantische Abwege. „Terroristinnen und Terroristen“ klingt seltsam respektvoll, „die Vertreibung der Armenierinnen und Armenier“ verharmlosend, „um Luft ringende Patientinnen und Patienten“ furchtbar entseelt. „Wenn man von Jüdinnen und Juden, kurz Jüd*innen, sprechen muss, weil Juden als Sammelbegriff unzulässig geworden ist, dann bekommen Leute wie ich auf neue Weise einen Stern verpasst“, sagt Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.

Damit sind wir beim Genderstern.

Mit ihm hält zum ersten Mal ein biologisches Signalzeichen Einzug in unsere Sprache. Während es in Orwells Dystopie „1984“ darum geht, durch Abschaffen von Begriffen das Denken zu reduzieren, soll der Genderstern das Denken ausweiten, indem er signalisiert: Achtung, es gibt nicht nur Männer und Frauen, sondern auch nichtbinäre Menschen.

Ein Stern ist ein Stern ist ein Stern

„In der Schriftsprache ist das Sternchen eine überambitioniert anmutende Innovation, denn es überschreitet mit der ihm zugeschriebenen quasi unendlichen Referenz alles bisher Dagewesene“, konstatiert der Sprachwissenschaftler Tim Hirschberg. Die langgediente feministische Linguistin Luise Pusch befürwortet solch ein Legosteinprinzip nur so lange, als es nicht „das Femininum in drei Teile zerreißt: männlicher Wortstamm, Genderstern, weibliche Endung. Dass wir Frauen in solchen Gebilden mit der Endung abgespeist werden sollen, ist unakzeptabel.“

Auch der Genderstern fällt durch den Praxistest. „Max und Elisabeth sind noch sehr jung und schon trockene Alkoholiker*innen“, schreibt die TAZ. Irgendwas stimmt mit dem Satz nicht. Die Frage „Hat sie*er persönlichen Kontakt zum*r Anführer*in“ (Edition F) ist kaum noch les- oder sprechbar. Das Sternchen unterliegt auch einer systematischen Ungleichbehandlung: Demokrat*innen ja, Diktator*innen nein. Dagegen wirkt es trivial, dass Wortlücken – egal, wie sie kodiert werden – es verunmöglichen, sich authentisch aufzuregen. Wieviel Emphase bleibt in „Ihr Idealist*innen! Ihr Fantast_innen! Ihr Stümper:innen!“ Wenn man das zu Ende denkt, kann man den Genderstern kaum ernster nehmen als ein Emoji oder ein Blümchen im Text.

Die Genderist*innen, wie ich sie ab sofort nennen möchte, finden den Stern trotzdem super und würden ihm gern flächendeckend zum Durchbruch verhelfen. Paradox: Einerseits bewerben sie ihn mit dem Argument, er sei in der Anwendung unauffällig, andererseits soll er als sprachlicher Stolperstein ein Mitdenken bewirken. Beide Behauptungen schließen sich aus, beide sind falsch. Die Idee, ein Symbol könne mit Bedeutung gefüllt werden, funktioniert allenfalls eine Weile. Nach einiger Zeit automatisiert sich das Sprechen und die kleine Pause wird zur Formalie, bei der sicherlich kaum noch jemand etwas mitdenkt.

Ob Genderstern oder Ersatzformen: Konsequenz und Einfachheit sind zwei Qualitäten, die den Gendertechniken abgehen. Sie mögen im Community-Kontext zur Selbstvergewisserung von Individuum oder Gruppe hilfreich sein, als Sprachwerkzeuge einer vielschichtigen Gesellschaft taugen sie nicht. Selbst überzeugte Befürworter räumen ein, dass sich die Praxis nicht konsequent durchhalten lässt. Was aber nützt eine Idee, die Verständigung erschwert und ihr eigentliches Ziel verfehlt?

Sprache reflektiert individuelle Vorstellungen. Ein Beispiel für erfolgreichen Vorstellungswandel ist der Begriff Wähler. Hier dachte man vor 100 Jahren ausschließlich an erwachsene Männer. Als Frauen endlich wählen durften, änderten sich auch die Assoziationen zu dem Begriff. Was hätte hier eine vorangehende Wortänderung von Wählerverzeichnis in Wählendenverzeichnis gebracht?

Corruptio optimi pessima

Halten wir fest: Gendersprache ist weder praktisch noch zielführend. Doch damit nicht genug: „Politisch korrekte Sprache ist richtig hässlich. Sperrig, irgendwie technisch und einfach nicht schön“, schreibt das Lifestyle-Magazin Vice. „Aber irgendwie muss man Menschen ja nennen.“ Leider verfängt das Schönheitskriterium bei den Genderist*innen nicht. Sie finden es nicht wichtig. Warum, weiß ich nicht.

Schönheit in der Sprache erwächst vor allem aus ihrer Funktionalität. Aus dem sinnfällig-witzigen Lehrsatz „Alle Schotten sind Briten, aber nicht alle Briten sind Schotten“ wird durch Gendern „Alle Schott*innen sind Brit*innen, aber nicht alle Brit*innen sind Schott*innen“ oder „Alle Schotten und Schottinnen sind Briten und Britinnen, aber nicht alle Briten und Britinnen sind Schotten und Schottinnen“. Man kann förmlich dabei zusehen, wie sich in einem prägnanten Gedanken der Fokus verschiebt, während der inhaltliche Kern sukzessive verblasst. Schickte man den Satz an den Lehrstuhl für Gender Studies an der Berliner Humboldt-Universität, käme dies zurück: „Alle Schottx sind Britx, aber nicht alle Britx sind Schottx“. Spätestens hier wird klar: Wenn es nach dem Willen extremer Sprachreformer ginge, wäre der Genderstern lediglich eine Etappe auf dem Weg zu weiteren drastischen Eingriffen in Syntax und Lexik des Deutschen. „Der Weg in die Sprachhölle ist mit korrekten Absichten gepflastert“, sagt der Zeit-Herausgeber Josef Joffe.

Mein Hauptargument gegen das Gendern ist jedoch kein ästhetisches, sondern betrifft ein Missverständnis. Sprache entwickelt sich seit Jahrhunderten. Was funktioniert, setzt sich durch; was die Verständigung erschwert, wird abgeschliffen. Selten ist es ohne Schaden gelungen, diesen unbewussten Akt nachzuahmen. Zwar stimmt es: Wenn ich die Meldung „Sonntagsausflügler drängten ins Grüne“ lese, stelle ich mir die Menschen derzeit vorwiegend weiß vor. Um diesen Satz für mich „gerechter“ zu machen, bräuchte ich also vielerlei Hinweise. Gerecht in diesem Sinne wäre eine Formulierung wie „Die LGBTQI+, PoC, alte und junge Menschen inkludierenden Sonntagsausflügler*innen drängten ins Grüne“. Das ist offensichtlich absurd. Sprache hat nicht die Aufgabe, von Dritten erwünschte Bedeutungen in unsere Köpfe zu pflanzen. Es gibt keine geschlechtergerechte Sprache. Es gibt überhaupt keine gerechte Sprache. Es liegt an uns, die vorhandene Sprache gerecht zu verwenden.

Sprache ist kein beliebig verfügbares Artefakt

Wer könnte sich der Sache annehmen? Leider ist im Land der Zuständigkeiten niemand für die Sprache zuständig. Die Kultusministerkonferenz hat andere Sorgen, der Deutsche Presserat schläft, die Akademie für Sprache und Dichtung scheint mit Dichten vollauf ausgelastet, der Dudenverlag will seine Umsätze steigern, der Rat für Rechtschreibung beobachtet.

In dieses Machtvakuum strömen verschiedenste sprachnormative Kräfte: Ministerien, Stadtverwaltungen, Gleichstellungsbeauftragte. Sie geben, selten unter fachlicher Begleitung, Leitfäden zum Gendern heraus, mit denen sie das Sprachproblem, das sie zu lösen vorgeben, selbst erschaffen. Bettina Hannover, Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung an der Freien Universität Berlin, erklärt: „Ich wende in Vorlesungen und Vorträgen durchgehend geschlechtergerechte Sprache an und korrigiere das auch in den Hausarbeiten meiner Studierenden.“ In einem FAZ-Interview berichtet Lukas Honemann, Lehramtsstudent an der Universität Kassel, in manchen Vorlesungen werde damit gedroht, „dass der Verzicht auf genderneutrale Sprache ein Grund sein kann durchzufallen“. Andreas Rödder, Mitinitiator des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit, beschreibt die wachsenden Ängste von Kollegen vor Nichtberücksichtigung ihrer nichtgegenderten Forschungsanträge. Gendern droht zum Machtinstrument einer Ideologie zu werden, das freiem Denken und persönlicher Verantwortung zuwiderläuft.

Sprachzauberer hier, Gendertechniker da

Eingriffe in die Sprache – die etwas völlig anderes sind als systemische Eigenveränderungen – sind im Kern totalitär. Vielleicht fühle ich mich beim Genderthema deshalb an mein Leben in der DDR erinnert, in der es eine ideologisch gefärbte Kunstsprache gab, die man in der Öffentlichkeit nachahmte und im Privaten parodierte. Als ich im vergangenen Herbst im Radio die ersten Male Sprechpausen in Wörtern hörte, fühlte ich eine Entfremdung, als wäre in meine Wohnung eingebrochen und die Hälfte der Möbel umgestellt worden. Der wiederkehrende Singsang von den „Bürgerinnen und Bürgern“ lässt mich ähnlich benebelt weghören wie damals die Ernteberichte der Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“. Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke vermochte es kürzlich, in fünf Rundfunkminuten etwa zehnmal die Formel „Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen“ herunterzurattern, ab dem dritten Mal klang es wie „Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei“.

Die mit dem Bachmann-Preis geehrte Autorin Olga Martynova beschreibt ihr post-sowjetisches Déjà-vu so: „Wenn ich von Kulturbeamten unterschriebene Flyer bekomme, wo Dichter*innen und Teilnehmende begrüßt werden, fühle ich mich unter Druck gesetzt. Ich als Autorin bekomme absurde sprachliche Empfehlungen von einer Kulturbehörde.“ Martynova sorgt sich vor allem um die Zunft: Wie will man auf Genderdeutsch Literatur verfassen, Lieder singen, Filme synchronisieren? „Die Gendersprache, das Überkorrekte und das ständige Moralisieren lassen vor allem eines missen: das Liebevolle, Zärtliche, das Neckende, Spielerische und den Humor“, sagt der Hamburger „Bordsteinkönig“ Michel Ruge.

Individuelle Demütigung wird zu kollektiver Diskriminierung erklärt

Julia Ruhs ist Volontärin beim Bayerischen Rundfunk und kämpft vehement gegen das Gendern. Die 27-Jährige verortet diese Praxis in einer „akademischen Blase“, außerhalb derer kaum gegendert werde. „Damit spaltet das gut gemeinte Sternchen, das es ja allen recht machen will, nicht nur die Worte in ihrer Mitte, sondern auch unsere Gesellschaft.“ Durch Gendern in Radio, Fernsehen und Zeitungen verstärkt sich der Eindruck, es gäbe zu dem Thema einen breiten Konsens. Eine Umfrage von YouGov zeigt, dass es nur 14 Prozent der Befragten ein klares Anliegen ist zu gendern. 14 Prozent, die den 86 anderen Prozent einreden, in unserer Sprache obwalte strukturelles Patriarchat. „Das grenzt an eine Verschwörungstheorie“, sagt der Typograf Friedrich Forssman.

Bleibt die Frage, warum dieses Narrativ trotzdem bei einigen Menschen verfängt, und warum die Genderist*innen so vehement darauf beharren und es wie einen Glaubenssatz gegen jeden Einwand verteidigen. Die Idee, mit einer simplen Sprachänderung die Gesellschaft zu verbessern, klingt einleuchtend und verlockend. Das erklärt die fast hypnotische Anziehungskraft, die dieser Gedanke auf manche ausübt. Die Antwort auf den zweiten Teil der Frage ist heikler, und ich kann sie hier nicht abschließend geben. Sie wäre möglicherweise dort zu finden, wo Menschen in ihre Biografien schauen und schmerzhafte Benachteiligungen auffinden, die Wut oder Schmerz bei ihnen auslösen. Der Schmerz des Nichtgesehenwerdens wäre durch ein Sprachplacebo jedoch nicht zu heilen, sondern nur zu betäuben. Irgendwann würden die Wunden wieder aufbrechen, und dann müsste man die Wörter erneut ändern.

Sprache kreiere Welt, behauptet Foucault. Über dem Streben nach idealer Verständigung schwebt der Wunsch, alle Widersprüche aufzulösen und Menschen zu Sprachengeln zu machen. Wenn alle Straßen umbenannt, alle Statuen geschleift, alle Unwörter ausgelöscht sind, in welcher Welt leben wir dann? Mensch sein heißt für mich, Widersprüche in sich zu tragen, Ambivalenz anzunehmen, Hölle oder Paradies für andere zu sein. Wenn man sich das vor Augen führt, bestünde die Chance auf einen anderen Denkansatz. Und vielleicht würde sich das Gespinst vom Nichtgemeintsein im Genum dann als das erweisen, was es ist: ein romantisches Märchen über sprachliche Ausgrenzung und Unterdrückung.

Die Aktivisten der Identitätspolitik haben im Gendern eine hehre Aufgabe entdeckt, in die sie sich mit Leidenschaft verbissen haben. Im Moment sind sie dabei, sich im Gendersprachwald zu verirren. Das generische Maskulinum ist eine Bastion der Klarheit und Integration in einem langsamen, bürokratischen und ein bisschen verrückt gewordenen Staat.

Inklusiver Diskurs ist längst unter uns. Er ist überall dort, wo Menschen ihre Denkmuster hinterfragen, kreativ mit Sprache umgehen, subtil die Kontexte wandeln. „Die jungen Russen wünschen sich bessere Beziehungen zum Westen“, hieß es kürzlich in einem Beitrag dieser Zeitung. Über dem Text das Bild einer Frau.

Dieser Text wurde für den Reporterpreis nominiert und mit dem Theodor-Wolff-Preis 2022 in der Kategorie „Meinung“ ausgezeichnet. Er  ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.

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