Gastkommentar

Dank dem Koran umweltbewusst leben? – Für viele junge Musliminnen und Muslime inzwischen Alltag

Viele nichtmuslimische Menschen denken bei der Scharia zuerst an strenge Sexualnormen und drakonische Strafen. Doch der Koran bietet durchaus auch Inspiration für ein umweltbewusstes Leben.

Hannan Salamat
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Verfolgt man die derzeitige Berichterstattung über den Islam und Musliminnen und Muslime in der Schweiz, dann dominieren Schlagzeilen wie Minarettverbot, Radikalisierung, Handschlagdebatte, Verhüllung und ähnliche Themen. Doch was ist die Lebensrealität der hier lebenden Schweizer Musliminnen und Muslime? Was bewegt sie, was sind ihre Themen? Derzeit scheint vor allem das Thema Umweltschutz im Mittelpunkt zu stehen. Eine Bewegung, die in den letzten Jahren unter den europäischen Musliminnen und Muslimen Anhänger gewinnt, ist der sogenannte «Öko-Jihad»: ein Umweltdiskurs, der ökologische Themen mit einer islamischen Ethik verbindet.

Schmuckvolle Seiten im Koran.

Schmuckvolle Seiten im Koran.

Mohamed Al-Sayaghi / Reuters

Für viele Musliminnen und Muslime ist der Koran nicht nur eine Quelle für Spiritualität, sondern auch eine Richtlinie für ein umweltbewusstes Leben. Im Auftrag der «Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich» (VIOZ) wurde 2016 eine Broschüre zum Thema «Umweltschutz und Nachhaltigkeit im Islam» in Auftrag gegeben. In der Broschüre sind zahlreiche Koranverse zu finden, die auf die Verpflichtung des Menschen auf Erden aufmerksam machen. Doch inwiefern kann ein Öko-Islam sinnvolle Handlungsanweisungen für ein umweltbewusstes Leben anbieten?

Der Kern des islamischen Glaubens ist die Einheit Gottes: Gott als Barmherziger und Allerbarmer ist der Schöpfer allen Seins. Gott steht in einer Einheit mit der Schöpfung, und somit steht alles Geschaffene in einer Beziehung zu Gott. Daraus ergibt sich, dass auch jedes einzelne seiner Geschöpfe mit Ehrfurcht behandelt werden muss. Im Koran wird weiter betont, dass die Schöpfung als Zeichen von Gottes Allmacht zu deuten ist. Die Schöpfung soll dem Menschen sowohl zur Gotteskenntnis als auch zu seinem praktischen Nutzen dienen. Der Mensch selbst nimmt in der Schöpfungsbeziehung aufgrund seines freien Willens die höchste Position ein. Er bekommt zusätzlich die Fähigkeit der moralischen Urteilsfähigkeit und wird dadurch zum Vertreter Gottes auf Erden – auf Arabisch «Khalifa». Damit erwächst dem Menschen die besondere Verantwortung, die Schöpfung zu respektieren und zu achten und mit Vernunft und Demut seine Möglichkeiten und Ressourcen zu nutzen. Vor Gier und Masslosigkeit wird im Koran immer wieder gewarnt. Die Schöpfung hat eine Ordnung, und diese Ordnung darf nicht durch menschliche Gier und Achtlosigkeit aus dem Gleichgewicht gebracht werden.

Diese islamischen Grundsätze sind in den letzten Jahren stark in den Fokus von muslimischen Aktivisten sowie von religiösen und säkularen Gruppen gerückt. Immer mehr Imame thematisieren Umweltschutz in den Freitagspredigten in Moscheen und mahnen zu Sparsamkeit beim Wasserverbrauch, zur Müllreduktion und dazu, lokale und regionale Produkte zu verwenden. Den Islam zeitgemäss zu denken, bedeutet auch, Gebote und Verbote neu zu denken. Unser Konsum hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Das wirft vor allem im Bereich Lebensmittel- und Textilkonsum Fragen auf. Ging es bisher beim Fleisch um die Schächtung, werden heute vor allem die Haltung, die Herkunft und der Konsum selbst infrage gestellt. Für viele fromme Musliminnen und Muslime geht «halal» (erlaubt) inzwischen nur noch Hand in Hand mit «bio».

Plastikfasten im Fastenmonat Ramadan oder Zero-Waste-Fastenbrechen gehören inzwischen zur Tagesordnung vieler vor allem junger Musliminnen. Im Ramadan 2018 gaben die Muslim Student Association Zurich (MSAZ) und die deutsch-muslimische Umweltorganisation NourEnergy e. V. zusammen einen Leitfaden für einen nachhaltigen Ramadan heraus. An der Universität Zürich fand sogar ein gemeinsames Zero-Waste-Fastenbrechen statt. Auch geht es beim Thema «islamkonforme» Kleidung inzwischen seltener darum, wie viele Körperteile verdeckt werden. Vielmehr stehen die Produktionsbedingungen im Fokus: Wer stellt meine Kleidung her? Wer trägt die wahren Kosten? All dies wird kritisch hinterfragt, und aus dem Islam heraus wird nach Antworten gesucht.

Viele Akteure sehen gerade im Umweltansatz des Islam eine Chance, Jugendliche zu ermächtigen und ein Bewusstsein für gesamtgesellschaftliche Anliegen mit einem integrativen Ansatz zu schaffen.

Betrachtet man die islamische Geschichte und weiss man, wie die Normen historisch zustande gekommen sind, ist diese Entwicklung heute nicht verwunderlich. Gebote und Verbote wurden in der islamischen Geschichte immer wieder neu ausgehandelt und diskutiert. Das zeigt sich vor allem in der Vielfalt der verschiedenen islamischen Strömungen und Rechtsschulen. Viel verwunderlicher ist hingegen, dass in etlichen islamischen Ländern das Bewusstsein für den Klimawandel gar nicht vorhanden ist. Dies zeigt sich etwa durch die Tonnen an Plastikmüll, die während der wichtigsten islamischen Festtage und der Pilgerfahrt nach Mekka entstehen. Umso mehr können die europäischen Musliminnen und Muslime hier eine Vorbildfunktion einnehmen und dieses Umweltbewusstsein aus den islamischen Quellen heraus in die «Herkunftsländer» exportieren.

Hannan Salamat hat die Fachleitung Islam beim Zürcher Institut für Interreligiösen Dialog inne.