Mit den gutbetuchten Herren, die sich alljährlich zum Ascot-Pferderennen einfinden, möchte wohl mancher tauschen. Aber der Zylinder allein macht's nicht. (Bild: Dan Kitwood / Getty)

Mit den gutbetuchten Herren, die sich alljährlich zum Ascot-Pferderennen einfinden, möchte wohl mancher tauschen. Aber der Zylinder allein macht's nicht. (Bild: Dan Kitwood / Getty)

Interview

René Girard: «Wir reden so viel über Sex, weil wir es nicht wagen, über Neid zu sprechen»

Im Wunsch, glauben wir, drücke sich unser innerstes Verlangen aus. Aber nur zu oft sind es andere, die – einmal unverhohlen, dann wieder ganz ohne Absicht – unser Begehren lenken. Der 2015 verstorbene französisch-amerikanische Denker René Girard hat diese Mechanismen scharfsinnig durchleuchtet.

Robert Pogue Harrison
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René Girard, der Grundgedanke der westlichen Philosophie ist «Erkenne dich selbst». Einfach ist das nicht; sich selbst zu erkennen, bedeutet vor allem, die eigenen Wünsche und Begehrlichkeiten zu kennen. Sie regieren unsere Beziehungen, beeinflussen Politik, Religion, Ideologien und Konflikte. Zugleich gibt es nichts, was mysteriöser, ungreifbarer oder abwegiger ist als das menschliche Verlangen. Das mimetische Begehren ist ein Grundkonzept Ihres Denkens. Können Sie diesen Begriff erklären?

Mimetisches Begehren bedeutet, dass unsere Wahl nicht – wie wir normalerweise meinen – durch das Objekt bestimmt wird, sondern vielmehr durch eine andere Person. Wir imitieren diese Person, daher der Begriff «mimetisch». Wenn etwa plötzlich alle Mädchen bauchfrei herumlaufen, dann nicht, weil jede Einzelne plötzlich findet, es sei hübsch, einmal ihren Nabel zu zeigen, sondern weil es eine Mode ist, die ebenso unvermittelt verschwinden wird, wie sie gekommen ist. Und in beiden Fällen handeln die jungen Frauen nicht aus sich selbst heraus, sondern sie tun es, weil andere es auch tun.

Wie weit würden Sie die Behauptung tragen, dass Begehren – seiner Natur nach und so, wie Menschen es leben – grundsätzlich mimetisch ist?

Wir müssen vielleicht mit der Frage nach dem Unterschied zwischen Bedürfnis, Appetit und Begehren beginnen. Das Bedürfnis ist ein Appetit, den jedes Lebewesen hat. Wenn wir allein in der Sahara sind und Durst haben, dann muss uns niemand vormachen, wie man trinkt; es ist ein Bedürfnis, das wir stillen müssen. Aber das Begehren in einer zivilisierten Gesellschaft ist mehrheitlich von anderer Art. Denken Sie an Eitelkeit, an Snobismus. Was ist Snobismus? Er besteht darin, dass man etwas nicht um seiner selbst willen begehrt, sondern weil man glaubt, man wirke eleganter und smarter, wenn man denjenigen ähnelt, die dieses Objekt ebenfalls begehren.

In einem Ihrer Essays schreiben Sie: «Begehrlichkeiten ziehen einander an, äffen einander nach und binden sich gegenseitig; so schaffen sie antagonistische Beziehungen, die beide Parteien im Zeichen der Differenz zu definieren versuchen.» Antagonismus ist also das fast unvermeidliche Resultat mimetischen Begehrens, sobald dieses eine Rivalität impliziert.

Die vielleicht besten Beispiele hiefür finden sich in den Dramen Shakespeares, wenn ein männliches Freundespaar auftritt. Die Freunde begehren immer dasselbe. Sie haben zusammen gelebt, dasselbe geträumt, dasselbe gegessen. Sie sagen sogar zueinander: Wenn du nicht willst, was ich auch will, dann bist du nicht mein Freund. Und dann verliebt sich einer in ein Mädchen. Und sobald sich er andere – zwangsläufig sozusagen – auch in dieses Mädchen verliebt, ist der Antagonismus da. Es gibt zweierlei Objekte: Die, die wir teilen können, weil genug davon da ist – Getränke etwa. Und die, welche wir nicht teilen können oder wollen – wie die Liebe eines Mädchens. Die wollen wir nicht teilen, schon gar nicht mit dem besten Freund.

«Der Verliebte kann nicht sicher sein, dass er die richtige Wahl getroffen hat, wenn sein Freund das Mädchen nicht auch liebt.»

Aber Sie meinen eigentlich etwas Komplexeres.

Etwas viel Komplexeres.

Die beiden Männer begehren nicht nur dasselbe Objekt, das Begehren hat auch etwas Promiskuöses. Es entsteht eine Art Verlangen nach dem Rivalen, nicht wahr?

Ja. Das ist ganz offensichtlich. In den «Zwei Herren aus Verona» etwa verliebt sich einer der jungen Männer, und der andere wird unweigerlich sofort hineingezogen.

Aber warum?

Weil der Verliebte ja nicht sicher sein kann, dass er die richtige Wahl getroffen hat, wenn sein Freund das Mädchen nicht auch liebt. Diese Art Freundschaft ist für Shakespeare und andere Autoren fast schon eine Obsession.

Umfassendes Wissen, kühne Vision

r. p. h. · René Girard (1923–2015) war einer der führenden Denker unserer Zeit. Unterschiedlichste Disziplinen konvergieren in seinem Œuvre: Geschichte, Anthropologie, Psychologie und Soziologie so gut wie Philosophie, Theologie und Religionswissenschaften. So überwand er etablierte Vorstellungen und Ismen und gelangte zu einer kühnen, umfassenden Sicht auf die Natur, die Geschichte und das Schicksal des Menschen. Er begann seine Arbeit in den 1960er Jahren mit einer neuen Konzeption des menschlichen Verlangens: Unsere Wünsche, schrieb er, sind nicht unser eigen, sondern sie sind «mimetisch». Als soziale Wesen lernen wir von anderen, was begehrenswert für uns selbst ist. Ausgehend von diesem Gedanken schrieb Girard über Imitation, Neid, Wettbewerb und Gewalt, über Sündenböcke, Rituale, Opfer und Krieg.

René Girard blickte tief in die Schwäche der Menschenseele. Die Hoffnung gab er deswegen nicht auf. (Bild: Linda A. Cicero / Stanford News Service)

René Girard blickte tief in die Schwäche der Menschenseele. Die Hoffnung gab er deswegen nicht auf. (Bild: Linda A. Cicero / Stanford News Service)

Im fünften Gesang von Dantes «Inferno» erzählt Francesca, wie sie zusammen mit Paolo die Geschichte von Lancelot und Guinevere las. Als die beiden Figuren sich küssten, legten Paolo und Francesca das Buch weg und taten dasselbe.

Francesca und Paolo sind verschwägert, sie ist die Frau von Paolos Bruder. Erst einmal war da überhaupt kein Gedanke an Liebe; erst die gemeinsame Lektüre drängt sie dazu, die Figuren nachzuahmen. Dante sieht das Buch denn auch als den Bösewicht, der sie verführt hat.

Die Struktur des mimetischen Begehrens haben Sie zuerst in der Literatur gefunden. Davon zeugt Ihr erstes Buch, «Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität».

Das stimmt, aber vor allem waren es die Berührungspunkte zwischen der Literatur und meiner eigenen Erfahrung. Ich war damals Anfang zwanzig, und natürlich interessierte ich mich für Mädchen. Plötzlich realisierte ich, dass ich mich wie die meisten Romanhelden verhielt – etwa bei Proust. Eine meiner Freundinnen wollte, dass ich sie heirate; das wollte ich nicht und zog mich zurück. Aber sobald sie das akzeptiert hatte und sich von mir trennte, fühlte ich mich wieder zu ihr hingezogen – weil sie sich mir verweigerte. All diese negativen Elemente sind im Begehren immer präsent. Sogar diejenigen, die kaum darüber Bescheid wissen, sind sich klar darüber, dass die Verweigerung des Objekts das Verlangen steigert. Und die Verweigerung hängt sehr stark mit der Präsenz einer dritten Person zusammen, die sich des Liebesobjekts bemächtigen könnte.

Sie haben in der europäischen Literatur eine ganze Reihe von Varianten dieses Phänomens gefunden.

Es gibt zweierlei Schriftsteller. Einerseits diejenigen, die ich als romantisch bezeichne. Sie glauben an die Ursprünglichkeit und Spontaneität des Begehrens. Sie meinen, ihre Wahl komme ganz aus ihrem eigenen Wesen heraus. Interessanter aber sind die Schriftsteller, die sich gewahr sind, welche Rolle die Person des Dritten in unserem Begehren spielt, und die mit dieser Konstellation arbeiten.

«Früher hatten Bücher eine ganz andere Faszinationskraft. Sie waren per se eine Versuchung.»

Können Sie solche Autoren nennen?

Das erste grosse Beispiel im europäischen Roman ist Cervantes. Warum will Don Quijote ein fahrender Ritter werden, wenn es längst keine mehr gibt? Er ist genau wie Francesca. Er liest Romane. Und dann will er werden wie Amadis von Gallien, der eine rein fiktionale Figur ist. Quijote wird zwar immer wieder grün und blau geprügelt, aber er ist vollkommen glücklich, weil er sich für den würdigen Nachfahren Amadis’ hält.

Literatur enthüllt also nicht nur die Mechanismen des mimetischen Begehrens, sondern sie setzt selbst Vorbilder in die Welt, welche die Leser imitieren wollen. Natürlich geschieht das in der heutigen Kultur auch anderswo, in der Unterhaltungsindustrie etwa oder in den Medien.

Richtig. Und die neueren Medien sind mächtiger als die alten. Heute beknien wir unsere Kinder, Bücher zu lesen, statt fernzusehen. Aber früher hatten Bücher eine ganz andere Faszinationskraft, sie waren, was das Fernsehen heute ist. Sie waren per se eine Versuchung.

In «Figuren des Begehrens» stellen Sie eine ganze Typologie der Emotionen auf, besonders der negativen: Hass, Eifersucht, Neid, Ressentiment . . .

Die natürlich alle mit Stolz zu tun haben. Denn bei einer mimetischen Rivalität ist die Eitelkeit involviert, und man will um jeden Preis gewinnen. Hauptsächlich geht es um den Kampf zweier junger Männer um eine Frau. Sie investieren ziemlich viel Zeit darein, sie zu verführen, besonders in der romanischsprachigen Literatur. Ich denke, ein Grund, warum die angelsächsische Kultur – wie soll ich das sagen? – ökonomisch dynamischer ist, liegt darin, dass weniger Energie in das mimetische Begehren abfliesst, das in der italienischen Kleinstadt, in Südfrankreich oder Spanien eine solche Rolle spielt.

Dann muss ich jetzt doch eine etwas provokative Frage stellen. Wenn es zutrifft, dass das mimetische Begehren in der angelsächsischen Kultur weniger stark ist als in der romanischen, wie können Sie dann behaupten, dass es eine Universalie ist?

Doch, das kann man. Natürlich spielt in diesen Romanen das sexuelle Begehren eine grosse Rolle. Aber mimetisches Begehren ist auch sehr wichtig in der Geschäftswelt. Die mimetischste Institution von allen ist eine kapitalistische: die Börse. Man will eine Aktie nicht, weil ihr etwas objektiv Begehrenswertes eignet. Man weiss überhaupt nichts über sie, aber man ist allein darum auf sie erpicht, weil andere Leute sie auch haben wollen. Und wenn alle sie haben wollen, steigt ihr Wert ins Unermessliche. So betrachtet, ist das mimetische Begehren eine Art absoluter Herrscher.

Ein interessanter Brückenschlag zwischen Eros und Kapital.

Marx’ Irrtum lag darin, dass er glaubte, der ökonomische Aspekt sei essenzieller als jeder andere. Freuds Irrtum war es, den sexuellen Aspekt für essenziell zu erklären. Beide beschränken sie das mimetische Begehren auf einen Sektor, einen Aspekt menschlichen Tuns, den sie als den einzig wichtigen ansehen, den Schlüssel zu allem anderen. Aber das mimetische Begehren lässt die Beziehung zwischen Marx und Freud sichtbar werden.

«Rache ist die letztgültige Ausprägung der mimetischen Rivalität, weil jeder Racheakt eine genaue Imitation des voraufgegangenen ist.»

Ihre Theorie des mimetischen Begehrens ist aber keine psychologische.

Nein, sie gründet auf menschlichen Beziehungen.

Und auf äusseren Strukturen, die weiter und grösser sind als die individuelle Psyche und die diese Beziehungen determinieren.

Ja.

Ihre mimetische Theorie beschränkt sich auch nicht auf den Menschen; es gibt dafür eine Grundlage in der Tierwelt.

Gewiss. Dort gibt es die sogenannten Dominanzmuster. Und wie kommen die zustande? Indem die Männchen um die Weibchen kämpfen. Die Männchen sind so begierig auf diesen Kampf, dass sie ihn manchmal noch fortführen, wenn das Weibchen bereits verschwunden ist, nur weil sie mimetisch erregt sind. Der Kampf wird wichtiger als sein Objekt. Aber Tiere werden einander dabei niemals töten, während die Menschen die Rache erfunden haben. Rache ist die letztgültige Ausprägung der mimetischen Rivalität, weil jeder Racheakt eine genaue Imitation des voraufgegangenen ist. Wenn Sie sich mit Rache befassen, dann realisieren Sie, dass mimetische Nachahmung sich in allen Manifestationen des Begehrens zeigt. Bei den Menschen kann das so extrem werden, dass es zum Tod führt. Rache lässt sich nicht einschränken.

Betrachten wir noch ein anderes Gefühl, das sehr eng mit Hass, Rache und Eifersucht verwandt ist, nämlich den Neid. Ich denke, das ist eine stark unterschätzte Emotion.

Das sehe ich auch so. Neid ist die Emotion, welche in unserer heutigen Gesellschaft, wo sich alles ums Geld dreht, die grösste Rolle spielt. Man beneidet die Menschen, die mehr haben als man selbst, aber man kann nicht über seinen Neid sprechen. Ich glaube, wir reden so viel über Sex, weil wir es nicht wagen, über Neid zu sprechen. Die eigentliche Verdrängung ist die Verdrängung des Neids.

Und natürlich ist Neid mimetisch.

Es ist unvermeidlich, dass wir unsere Vorbilder nachahmen. Wenn jemand Geld braucht, dann wird er versuchen, im selben Geschäftszweig sein Glück zu machen wie der Mann, den er bewundert. Und mit einiger Wahrscheinlichkeit wird er dabei zerstört werden. Auch wenn die Leute von Masochismus reden, geht es dabei letztlich um mimetisches Begehren. Es heisst, dass wir uns immer dorthin bewegen, wo das Begehren, das wir am meisten beneiden, sich am stärksten manifestiert. Das tun wir, weil es dort noch stärker ist als bei uns – und mit aller Wahrscheinlichkeit wird es uns erneut aus dem Feld schlagen. So kommt zustande, was Freud einen Wiederholungszwang nennt; wir sind und bleiben besessen von dem, was uns die erste Niederlage beschert hat.

«Neid ist so schwer einzugestehen, weil er unser ganzes Wesen involviert. In gewisser Weise bedeutet er die Verneinung des eigenen Selbst.»

Die mittelalterliche Ikonografie zeigt den Neid oft als eine Frau mit verbundenen Augen. Ist der Neid blind . . .

Ja.

. . . oder sind vielmehr wir blind, indem wir es nicht vermögen, den Neid als eine der dominantesten Leidenschaften in unserer Gesellschaft wahrzunehmen?

Neid ist so schwer einzugestehen, weil er unser ganzes Wesen involviert. In gewisser Weise bedeutet er die Verneinung des eigenen Selbst und das Eingeständnis, dass man lieber wäre wie der Rivale. Das ist ein derart abscheuliches Gefühl, dass es Mordlust weckt – das Verlangen, den Anderen, den man beneidet, umzubringen.

Manchmal Mordlust, manchmal aber auch Bewunderung.

Das ist dasselbe. (Lacht)

Wir wollen allemal hoffen, dass das Resultat nicht dasselbe ist. Ich wüsste gern, ob die Werbeindustrie eine Ahnung von dem hat, was Sie sagen. Was Neid angeht, weiss sie jedenfalls sehr gut Bescheid.

O ja. Die Werbung versucht nicht, uns aufzuzeigen, dass das Produkt, das sie verkaufen will, objektiv das beste ist. Sie will immer beweisen, dass das Produkt von den Menschen begehrt und gekauft wird, denen wir gerne gleichen würden. Darum sind es immer junge, braungebrannte Leute, die an einem sonnigen Strand Coca-Cola trinken, Leute, die sehr wenig, aber sehr Teures an ihren wohlgeformten Leibern haben. Das hat etwas fast schon Religiöses. Wenn du Coke trinkst, je mehr, desto besser, dann wirst du ein bisschen wie die Leute, die du bewunderst. Es ist eine Art Eucharistie.

Reden wir noch über Ihre Shakespeare-Studie, «Theater des Neides». Sie nennen Shakespeare Ihren grossen Vorläufer bei der Entdeckung des mimetischen Begehrens.

Ich sehe ihn sogar in erster Linie als den Dichter des mimetischen Begehrens. Wenn Sie ein Stück wie den «Sommernachtstraum» nehmen, dann sehen Sie, dass zwei Männer immer dazu tendieren, dieselbe Frau zu lieben. Dann träufelt man ihnen etwas magischen Blumensaft in die Augen, und schon wendet sich beider Liebe einer anderen zu. Und so werden sie Rivalen. Die Geister und Feen, die in dem Stück so wichtig sind, sollten wir als Emblem dafür nehmen, wie Menschen in archaischen Gesellschaften das mimetische Begehren verkannten. Mythen und Geschichten dieser Art sind immer eine Art Entschuldigung, indem sie mittels des Wunderbaren die schlimmen Folgen des mimetischen Begehrens zu erklären suchen.

Und Sie meinen, dass Shakespeare das genau verstanden hat.

Ja, das glaube ich. «O Tod! Mit fremdem Aug’ den Liebsten wählen!» – das ist eine Kernaussage dieses Stücks. Die wahre Hölle fängt an, wenn man die Liebe durch die Augen von jemand anderem sucht und dadurch unweigerlich in ein Eifersuchtsdrama mit dem eigenen Freund oder der Freundin gezogen wird. Genau darum geht es im «Sommernachtstraum».

«Je stärker die mimetische Rivalität, desto mehr glaubt man sich vom Rivalen zu unterscheiden. Faktisch aber tut man immer dasselbe wie er.»

Sie konstatieren in Ihrem Buch, dass mimetisches Verhalten in den Komödien viel häufiger vorkommt als in den Tragödien oder dass es dort zumindest wesentlich offensichtlicher ist.

Ja, denn die Komödie erlaubt alle möglichen Konstellationen. Ich habe die «Zwei Herren aus Verona» bereits erwähnt. In Shakespeares ersten Stücken gibt es nur ein Liebespaar beziehungsweise zwei Männer, die dann dasselbe Mädchen lieben. Später sind es zwei Paare, die buchstäblich über Kreuz geraten. Es ist wie ein Ballett. Letztlich bewegen wir uns auf eine Kunstform zu, in der die Gesten und Worte alle irgendwie symmetrisch arrangiert sind – und der Grund dafür ist die mimetische Rivalität.

Sind sich die Figuren dieser Symmetrie bewusst?

Im Gegenteil. Je stärker die mimetische Rivalität, desto mehr glaubt man sich vom Rivalen zu unterscheiden. Faktisch aber tut man immer dasselbe wie er, verhält sich wie er, und die Differenzen kollabieren. Die Figuren werden buchstäblich Doubles. Sie handeln gleich. Sie sprechen gleich. Und sie haben das Gefühl, dass der Andere sie nachäfft, um sie zu verhöhnen. Aber dieses Nachahmen ist faktisch ein Zwang. Das passiert mit Hermia und Helena im «Sommernachtstraum».

Nehmen wir «Hamlet» als Testfall. Die Literaturkritik sieht in dem Drama eine der ersten modernen Darstellungen eines Bewusstseins, das mit sich selbst im Streit liegt. Hamlet zieht sich auf sich selbst zurück. Er scheint genau die Art Figur zu sein, die sich aus dem promiskuösen Kreislauf des Verlangens heraushalten kann.

Das gelingt ihm tatsächlich über längere Zeit. Und darum kann er nicht tun, was die Gesellschaft von ihm fordert, nämlich Rache nehmen. Und er erkennt die Ähnlichkeit zwischen seinem Vater und seinem Onkel. Sie sind beide Mörder. Sie hassen einander, aber sie sind mimetische Charaktere.

Und er sieht die Vergeblichkeit . . .

Er sieht die Vergeblichkeit.

. . . des Gesetzes der Rache.

Richtig.

Und was geschieht dann? Warum fällt er diesem Mechanismus dennoch zum Opfer?

Dazu müssen wir uns der Handlung zuwenden, die um den von Hamlet ermordeten Polonius und dessen Sohn Laertes kreist. Laertes ist eine Art Anti-Hamlet. Er ist bereit, die Rache zu vollziehen, zu der Hamlet nicht fähig ist. Er vermag um seine Schwester Ophelia zu trauern, heftig und emotional. Und als Hamlet das sieht, sagt er: «Doch wirklich, seines Schmerzes Prahlerei / Empörte mich zu wilder Leidenschaft.» Das heisst, dass er, indem er Laertes imitiert, fähig sein wird, ihn zu töten und den Mechanismus der Rache in Gang zu setzen, was er zuvor nicht vermochte. Laertes wird das Vorbild für das mimetische Verlangen, das Hamlet unbewusst verspürt. Durch Nachahmung überwindet er schliesslich seine Unfähigkeit zu handeln.

Aber zum Guten gereicht ihm dies nicht.

Man könnte sagen, dass Handlungsunfähigkeit in unserer Welt auch bedeutet, dass man sich der Dummheit mimetischen Begehrens gewahr ist und realisiert, wie gleich die Dinge einander am Ende sind. Je mehr man handelt, desto mehr gerät man in den Kreislauf dieser mimetischen Situationen.

Ist das die Essenz des Dramas?

Das ist Shakespeare. Die meisten Tragödiendichter sind nicht so modern. Oder sagen wir, es ist Shakespeare, so, wie ich ihn lese. Ich habe keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Aber Shakespeare ist unglaublich modern. Er realisiert, wie schwer es ist, eine Rachetragödie über drei, vier, fünf Stunden am Laufen zu halten. Darum brauchen wir einen Helden, der sich nicht rächen kann; einen Helden, der nicht an die Situation glaubt.

Das wahrhaft Tragische liegt wohl darin, dass man, noch wenn man den Wahnsinn des Rachekreislaufs und der reziproken Gewalt erkennt, sich diesen Mustern nicht entziehen kann.

Aber es kommt vor, dass uns genau das gelingt. Menschen ziehen sich aus mimetischen Situationen zurück, so wie Hamlet. Ist das nicht ein Teil moderner Intelligenz? Wir analysieren die mimetische Situation nicht vollständig, aber wir realisieren, dass wir uns in einer absolut klassischen Situation befinden, die sich in derselben Minute allenthalben auf der Welt tausendfach abspielt. Und wir springen aus dem Szenario heraus, weil wir nur zu gut wissen, dass es noch nie gut herausgekommen ist.

«Ich glaube an Gewaltlosigkeit, und ich glaube, dass die Erkenntnis der Gewalt einen lehren kann, Gewalt zu verwerfen.»

Was hilft uns denn dabei, aus diesen alten Kreisläufen auszubrechen?

Ich glaube, dass wir frei sind. Es ist eine Frage des Verstehens und des Willens. Menschen sind so leidenschaftlich, dass sie immer wieder in dieselbe Grube fallen. Das passiert auch uns selbst. Auch wir sind überzeugt von dem, was wir tun; auch wir wollen Erfolg haben. Und Erfolg hat man immer auf Kosten von jemand anderem. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass Erfolgsdruck und Rivalität zu vermehrter Gewalt führen.

Was bringt Sie auf diesen Gedanken?

Wir haben jetzt viel über Literatur gesprochen, aber unlängst habe ich ein Buch gelesen, von dem ich viel gelernt habe: Clausewitz’ Schrift «Vom Kriege». Clausewitz nennt den Krieg ein Chamäleon. Er schreibt, dass er eine Eskalation bis zum Letzten ist und dass man, um zu gewinnen, den Gegner ständig nachahmen muss. Wenn man Clausewitz genau liest, dann erkennt man, dass das Buch genau wie ein mimetischer Roman funktioniert. Clausewitz lehrt uns nicht, wie man gewinnt, aber er zeigt uns ständig die mimetische Natur des Krieges. Diese spiegelt sich auch im Technischen, die Feuerkraft etwa ist ein mimetisches Spiel. Wenn du eine grosse Kanone hast, brauche ich eine noch grössere.

Wenn die Politiker auf Sie hören würden, was rieten Sie ihnen?

Das ist eine schwierige Frage, weil meine Vision im Innersten religiös ist. Ich glaube an Gewaltlosigkeit, und ich glaube, dass die Erkenntnis der Gewalt einen lehren kann, Gewalt zu verwerfen. Man sieht ein, dass es sich dabei um ein Spiel handelt, das immer gleich verläuft, um eine endlose Wiederholung.

Das hat Hamlet auch schon eingesehen. Es hat ihn nicht gerettet.

Ah. Aber Shakespeare musste dazu Laertes ins Spiel bringen. Und wäre Laertes ein weiterer Hamlet gewesen, dann hätte das Stück kein Ende gefunden. Es wäre das Ende der Tragödie gewesen. Und tatsächlich war Shakespeare, als er den «Hamlet» schrieb, schon nah am Ende der Tragödie. In seinem Spätwerk wandte er sich den Romanzen zu, und dort gibt es eine Handvoll Figuren – etwa Leontes im «Wintermärchen» –, die ihre Gewalttätigkeit und ihr mimetisches Verlangen nach Rache bereuen.

Aus dem Englischen von as. - Das hier in gekürzter Fassung abgedruckte Gespräch mit René Girard führte der in Stanford lehrende Italianist und Kulturphilosoph Robert Pogue Harrison im Jahr 2005 für seine Radiosendung «Entitled Opinions».