Seetagebuch
Auf Forschungsfahrt mit der L’Atalante
Tausende Fässer mit Atommüll lagern auf dem Meeresgrund des Atlantiks – doch wo genau? Eine internationale Expedition unter der Beteiligunng des Thünen-Instituts für Fischereiökologie geht dieser Frage nach.
Dauer der Reise: 16. Juni bis 11. Juli 2025
Fahrtgebiet: Nordostatlantik
Zweck der Reise: Kartierung von Atommüllfässern in der Iberischen Tiefsee (NODSSUM)
Fahrtleiter: Javier Escartin (IFREMER)
Blog-Autor: Pedro Nogueira
++ 15.06.2025 ++ An Bord der L’Atalante
Der Tag begann früh am Morgen mit dem Verladen der persönlichen Gepäckstücke und dem Erklimmen der 10 Meter hohen Gangway der L’Atalante (IFREMER), einem 1989 gebauten Schiff mit einer Länge von 84,6 Metern und einer Breite von 15,9 Metern. Bisher habe ich nur an Forschungsfahrten mit der Walther Herwig III (BLE) teilgenommen und bin daher sehr gespannt darauf, die vielen Möglichkeiten dieses französischen Schiffes kennenzulernen und zu erfahren, wie sich die Arbeit und das Leben an Bord von einem deutschen Forschungsschiff unterscheiden.
Diese Seereise unter der Leitung von Javier Escartin ist die erste von zwei Seereisen im Rahmen des NODSSUM-Projekts (Nuclear Ocean Dump Site Survey Monitoring). Sie hat die Kartierung der Atommüll-Lagerstätten sowie Probenahmen von Meereslebewesen, Sedimenten und Wasserproben in der iberischen Tiefsee zum Ziel. In dieser Region sind zwischen 1967 und 1983 Fässer mit insgesamt 42 PBq schwach radioaktiven Materials versenkt worden.
Meine Aufgabe an Bord ist die Entnahme von Fischproben für radioaktive Messungen. Darüber hinaus unterstütze ich das Strahlenschutzteam an Bord, das für die ersten Messungen der Proben verantwortlich ist und sicherstellt, dass keine Personen mit radioaktiven Substanzen kontaminiert werden, die seit 40 Jahren auf dem Meeresboden liegen.
Am Ende des Vormittags war der Einsatz des autonomen Unterwasserfahrzeuges „Ulyx“ erfolgreich getestet worden. Am Nachmittag wurde mit dem Auspacken des wissenschaftlichen Materials begonnen und unser neues Zuhause für die nächsten vier Wochen erkundet.
Die ersten Tage der Seereise waren der Einrichtung der wissenschaftlichen Ausrüstung und der Einweisung in deren Verwendung für Wasser- (CTD-Rosette) und Sedimentproben (Multicorer) und für den Fischfang (Fallen) gewidmet. Wie üblich wurde diese Zeit auch für die Sicherheitsunterweisung, das Anprobieren der Rettungsanzüge und später für die Evakuierungsübung genutzt.
Im Mondlicht wurden erste Tests durchgeführt, um die Funktionsfähigkeit der CTD-Rosette und des Multicorers zu überprüfen. Auf dem Weg zur Iberischen Tiefsee machten wir einen kurzen Stopp an einem zuvor festgelegten Test Ort. In diesem Gebiet beträgt die Tiefe etwa 2100 Meter, sodass die Wartezeit für den CTD-Probenehmer 2,5 Stunden und für den Multicorer zwei Stunden beträgt. Nach der langen Wartezeit kam das Strahlenschutzteam zum Einsatz. Um die Sicherheit an Bord zu gewährleisten, wurden die ersten Proben mit Hilfe eines kleinen Strahlungsdetektors für Beta- und Alphastrahlung gemessen, gefolgt von einer 30-minütigen Gammamessung mit einem Germaniumdetektor.
Heute wurden zwei Fallen im Kontrollgebiet aufgestellt. Dazu wurden sie mit Ketten am unteren Teil an einem 500 kg schweren Zementblock und am oberen Teil an sechs Schwimmern, mehreren Geräten zur Lokalisierung und einer Flagge befestigt. Insgesamt ist dieses System 40 mlang und wiegt 465 kg. Zwischen dem Gewicht und der Falle wurde ein akustisches Auslösesystem montiert. Wie der Name schon sagt, wird dieses System durch ein akustisches Signal aktiviert, das den oberen Teil (Falle und Schwimmer) von dem Gewicht löst.
Vor dem Verankern der beiden Reusen wurden mehrere Makrelenstücke in Tüten verpackt und in die Reusen gelegt. Außerdem haben wir den Eingang der Falle mit Fischen eingerieben, in der Hoffnung, dass die Fische den Eingang so leichter finden werden. Zusätzlich wurde in der Fischfalle eine kleine Falle für Amphipoden (Flohkrebse) aufgestellt, eine kleine Röhre mit einem Kegel, durch den die Amphipoden eindringen können, aber nicht mehr hinauskommen.
Wir sind gespannt, welche seltsamen Meerestiere wir fangen werden.
Die ersten beiden Einsätze der Fischfalle brachten nur geringe Fänge ein – lediglich zwei Flohkrebse. Dabei handelte es sich um Exemplare von Eurythenes gryllus, einem großen Tiefsee-Aasfresser, der äußerlich an eine Garnele erinnert. Im Gegensatz zu den meisten Flohkrebsen, die in der Regel sehr klein sind, kann E. gryllus beeindruckende 14 Zentimeter lang werden. Er bewohnt die tiefsten Bereiche der Ozeane, von etwa 500 bis über 7.000 Meter Tiefe.
Als wichtiger Teil des Nahrungsnetzes in der Tiefsee ernährt sich E. gryllus von organischem Material, das auf den Meeresboden absinkt – etwa tote Fische oder Meeressäuger. Mit seinem ausgeprägten Geruchssinn kann er Nahrung auch in völliger Dunkelheit über große Entfernungen aufspüren. Sobald ein größerer Kadaver den Boden erreicht, erscheinen oft schnell Gruppen dieser Flohkrebse, um sich daran zu laben.
Über ihre Fortpflanzung ist noch wenig bekannt. Wie viele Tiefseetiere pflanzt sich E. gryllus vermutlich langsam fort. Die Weibchen tragen ihre Eier in einer Bruttasche, und die Jungtiere schlüpfen bereits als Miniaturausgaben der Erwachsenen. Aufgrund der kalten, nährstoffarmen Umgebung wachsen sie nur sehr langsam und können über zehn Jahre alt werden.
Beim dritten und vierten Versuch hatten wir mehr Glück mit unserer Fischfalle: In jeder Falle befanden sich zwei Exemplare von Coryphaenoides armatus, auch bekannt als Tiefsee-Grenadierfisch. Er lebt in den dunkelsten Regionen des Meeres, meist in Tiefen von über 5.000 Metern. Sein schlanker, langgestreckter Körper, der große Kopf und die auffälligen Augen sind perfekt an das Leben in Kälte und Dunkelheit angepasst.
Wie die Flohkrebse trägt auch C. armatus zur Verwertung von organischem Material bei, das aus oberen Wasserschichten absinkt. Er ernährt sich sowohl von Aas als auch von lebender Beute wie kleinen Krebstieren und Würmern. Dank seines feinen Geruchssinns kann er Nahrung selbst in völliger Finsternis aufspüren.
Auch über seine Fortpflanzung ist wenig bekannt. Man geht davon aus, dass sich die Art nur selten vermehrt und dabei eine geringe Anzahl großer Eier produziert. Die Jungtiere treiben wahrscheinlich lange Zeit frei im Wasser, bevor sie den Meeresboden erreichen. Wie viele Tiefseebewohner wächst auch C. armatus langsam und kann vermutlich mehrere Jahrzehnte alt werden – möglicherweise bis zu 50 Jahre.
Heute führten wir eine besondere Aktion in 4.700 Metern Wassertiefe durch. Mit Hilfe eines schweren Betonankers, der ursprünglich für die Verankerung von Fischkäfigen gedacht war, versenkten wir mehrere Keramik-Ammoniten der Künstlerin Marina Zindy auf dem Meeresboden.
Die Keramikstücke wurden sorgfältig am Anker befestigt und anschließend in die Tiefe abgelassen, wo sie über Jahre hinweg liegen bleiben werden. Die Idee dahinter ist sowohl wissenschaftlich als auch symbolisch. Laut Marina Zindy handelt es sich bei der Platzierung der Ammoniten auf dem Tiefseeboden um eine symbolische und poetisch-künstlerische Geste – eine Verbindung zwischen menschlicher Kreativität und einem der abgelegensten und extremsten Lebensräume der Erde.
Zugleich macht Zindy jedoch deutlich: „Diese Geste kann den Ozean leider nicht von dem heilen, was wir Menschen ihm antun.“ Ihre Arbeit ist ein stilles Nachdenken über die tiefe menschliche Wirkung auf das Meer – ein Kunstwerk, das zugleich berührt und zum Nachdenken anregt.
In Zukunft hoffen wir, die Stelle erneut besuchen zu können, um zu beobachten, ob und wie sich Meeresorganismen mit den Skulpturen auseinandersetzen. Werden sie besiedelt? Verändern sie ihre Form oder Farbe unter den Bedingungen der Tiefsee?
Diese ungewöhnliche Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Kunst erinnert uns daran, dass der Ozean nicht nur ein Ort für Daten und Forschung ist, sondern auch ein Raum für Erinnerung, Veränderung und menschliche Emotion.
Seit Beginn unserer Seereise arbeiten wir eng mit dem AUV Ulyx zusammen – einem der modernsten Tiefsee-Erkundungsfahrzeuge der Welt. Ulyx gehört zur französischen ozeanografischen Flotte und wird von Ifremer betrieben. Es kann bis in 6.000 Meter Tiefe tauchen und ist mit einem hochauflösenden Sonar ausgestattet, das eine detaillierte Kartierung des Meeresbodens ermöglicht. Während dieser Fahrt wird Ulyx eingesetzt, um Fässer mit radioaktiven Abfällen zu lokalisieren, die zwischen 1967 und 1983 von der Nuclear Energy Agency im Nordatlantik versenkt wurden. Dank seiner autonomen Arbeitsweise sowie präziser Navigation und Bildgebung ist Ulyx ein unverzichtbares Werkzeug zur Untersuchung dieser historischen Ablagerungsstellen in der Tiefsee.
Mit den hochauflösenden Sonarbildern, die von der Ulyx erzeugt wurden, konnte bisher die Lage von mehr als 1.300 Fässern bestimmt werden.
Nachtrag vom 30. Juni 2025: inzwischen wurden mehr als 1.800 Fässer gefunden.
Heute habe ich zusätzlich zu meinen Probenahmen für Radioaktivitätsmessungen Wasserproben für meinen neuen Kollegen Kenneth Arinaitwe entnommen. Er ist daran interessiert, PFAS (Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen) in Fischen, Sedimenten und Meerwasser in verschiedenen Tiefen zu messen.
PFAS kommen nicht natürlich vor, sondern werden industriell hergestellt. Zu den PFAS gehören mehrere Tausend verschiedene Substanzen, die beispielsweise zur Herstellung atmungsaktiver, wasserabweisender Kleidung, aber auch in vielen anderen Bereichen eingesetzt werden. Sie reichern sich in der Umwelt an, weil sie nur sehr langsam abgebaut werden und daher auch als „Ewigkeitschemikalien“ bezeichnet werden. Einige von diesen Substanzen stehen zudem im Verdacht krebserregend zu sein.
Für die Entnahme der Wasserproben in vier verschiedenen Tiefen habe ich die CTD-Rosette verwendet: in 4703 Metern (über dem Meeresboden), in 763 Metern (aus dem Mittelmeerstrom), in 400 Metern und in 50 Metern (mit maximalem Chlorophyllgehalt). Eine letzte Probe habe ich mit Hilfe eines Seils und eines Eimers an der Oberfläche entnommen.
Heute war unser letzter Einsatztag. Ganz abgeschlossen ist unsere Arbeit jedoch noch nicht. Zwischen dem Verpacken der wissenschaftlichen Geräte und dem Reinigen der Labore blieb noch Zeit für eine gemeinsame Abschiedsparty mit der gesamten Crew. Und nicht zuletzt haben wir uns auch im Gästebuch des Schiffs verewigt – eine kleine Tradition zum Abschluss einer unvergesslichen Forschungsreise.
In den letzten vier Wochen haben wir 5.000 Liter Wasserproben, 345 Sedimentkerne, 19 biologische Proben und zahlreiche weitere kleinere Proben gesammelt.
Mit dem Sonar des Unterwasserroboters Ulyx konnten wir etwa 3.350 Fässer auf einer Fläche von 163 km² kartieren. Im Rahmen fotografischer Surveys wurden über 5.000 Fotos aufgenommen, die rund 38.000 m² Meeresboden abdecken. Etwa 50 Fässer wurden optisch dokumentiert – die Bildauswertung läuft derzeit.
Eine erste Sichtung der Aufnahmen zeigt, dass sich die Fässer in sehr unterschiedlichem Zustand befinden: teils intakt, teils deformiert oder beschädigt. Viele sind sichtbar korrodiert und von festsitzenden Organismen wie Seeanemonen besiedelt. Bei einigen Fässern wurden Leckagen beobachtet – vermutlich handelt es sich um ausgetretenes Bitumen.
Die an Bord verwendeten Messgeräte für Radioaktivität zeigten Werte an, die im Bereich der natürlichen Hintergrundstrahlung liegen. Genauere Laboranalysen der Sedimente, Wasser- und Fischproben werden allerdings noch mehrere Monate in Anspruch nehmen.
Während der Reise habe ich neben meiner wissenschaftlichen Arbeit 12 Interviews für deutsche Zeitungen, Radio und Fernsehen gegeben. Es war eine arbeitsreiche, aber sehr bereichernde Expedition: Ich konnte neue Methoden lernen, mit einem tollen Team arbeiten – und sogar ein paar neue Freundschaften schließen. Wenn ich diesen Monat in nur zwei Worten zusammenfassen müsste, würde ich sagen: „Großer Erfolg!“