Interview mit Piazolo
Kultusminister: "Vier Szenarien" in Bayern für Schule ab Herbst

17.07.2020 | Stand 19.09.2023, 5:46 Uhr

Kultusminister Michael Piazolo. −Foto: dpa

Für das kommende Schuljahr müssen sich die Schulen in Bayern laut Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) auf vier mögliche Szenarien vorbereiten.

Herr Piazolo, wie läuft die Schule ab September, worauf können wir uns einstellen? Ist der von Ihnen angepeilte Regelbetrieb realistisch?
Piazolo: Tatsache ist, dass wir uns auf vier Szenarien vorbereiten müssen. Szenario eins ist, dass wir zum Regelbetrieb mit Hygieneauflagen zurückkehren - ohne Abstandhalten und in normaler Klassenstärke. Das setzt voraus, dass sich das Corona-Infektionsgeschehen günstig entwickelt. Szenario zwei ist, dass sich das Infektionsgeschehen in ganz Bayern etwas steigert: Das hieße, dass weiterhin Unterricht im Wechsel zwischen Präsenz- und Distanzunterricht stattfinden muss. In Szenario drei tauchen einzelne Corona-Hotspots auf, so dass einzelne Klassen oder Schulen in den Lockdown müssten. Im schwierigsten Szenario vier gibt es landesweit eine zweite Welle - dann müssten wir wieder zum Distanzlernen übergehen. Diese Fallkonstellationen sind alternativ, und wir müssen uns auf alle vorbereiten und gegebenenfalls schnell reagieren können.

In drei der Szenarien geht es um Distanzlernen, also Homeschooling. Soll das dann so weiterlaufen wie bisher - oder gibt es neue Vorgaben, Konzepte und Hilfestellung für Lehrkräfte?
Piazolo: Es gab in all diesen Monaten Vorgaben. Bei der Schulschließung am 16. März gingen wir davon aus, dass die Schulen nach Ostern wieder öffnen. Die Vorgabe war: Lernstoff wiederholen, üben und vertiefen. Als klar war, dass die Schließung länger dauert, haben wir uns aufs Lernen zuhause konzentriert und einzelne Empfehlungen an die Schulen gegeben, etwa dass Erst- und Zweitklässler täglich 120 Minuten zuhause lernen und dass Lehrkräfte den Schülern regelmäßige Rückmeldungen geben sollen. Wir haben in dieser Zeit viel gelernt, auch wie das Distanzlernen in Pandemie pädagogisch gut gestaltet werden kann. Bei mehr als 100.000 Lehrkräften in Bayern wurde möglicherweise nicht überall alles so gelebt, wie es sich die Eltern vorstellen. Insgesamt erlebe ich unsere Lehrkräfte aber als außerordentlich engagiert und kreativ. Für weiterführende Schulen haben wir ab Herbst einen Vertrag mit der Online-Plattform Microsoft Teams geschlossen, außerdem gibt es neue Fortbildungsplattformen und verpflichtende Fortbildungen für Lehrkräfte.

Die Monate im Homeschooling wären besser gelaufen, hätte der Freistaat in Sachen Digitalisierung an den Schulen nicht jahrelang geschlafen ...
Piazolo: Man muss sehen: Tools wie die Plattform Mebis für Gymnasien wurden nicht für eine Pandemie entwickelt. Die Vorstellung, die ganze Schullandschaft auf so einen Fall vorbereiten zu können, ist unrealistisch. In den letzten 70 Jahren ist Schule nie länger als vielleicht mal, bei extremen Wetterlagen, eine Woche ausgefallen. Es ist uns gut gelungen, uns auf die Situation einzustellen, und rückblickend muss man sagen, dass wir ganz ordentlich durch die Krise gekommen sind - gerade im Vergleich mit anderen Ländern.

Das gilt sicher fürs Infektionsgeschehen - aber skandinavische Länder zum Beispiel haben teilweise einen hochprofessionellen Digitalunterricht gemacht.
Piazolo: Ich bestreite nicht, dass wir bei der Digitalisierung jahrelang nicht mit dem notwendigen Tempo vorangegangen sind und Dinge schneller hätten entwickeln können. Aber seit Beginn meiner Amtszeit vor eineinhalb Jahren wurde die Digitalisierung deutlich ausgebaut. Man muss auch unterscheiden zwischen Digitalisierung im Präsenzunterricht und beim Lernen zuhause. Es ist jetzt gelungen, den Vertrag mit Microsoft Teams zu schließen - vorher hatte man für ein solches Tool für zuhause gar keinen richtigen Bedarf.Piazolo: Wollen Digitalisierung auch an Grundschulen vorantreiben


Aber die Plattform ist nur für weiterführende Schulen geplant?
Piazolo: Wir wollen das auch an den Grundschulen vorantreiben, noch in diesem Jahr. Solche Verträge sind komplex, weil sie internationales Recht berühren. Allerdings denke ich, dass gerade Grundschulen auch andere Möglichkeiten haben, den Schülern Material zukommen zu lassen. Ich stelle mir die Digitalisierung auch nicht so vor, dass es sechs Stunden Online-Unterricht gibt. Wir wollen auf jeden Fall auf Vorhandenes zurückgreifen: Ein vergleichbares Tool selbst zu entwickeln - damit würde sich das Kultusministerium wohl überheben.

Bislang haben viele Lehrkräfte in ihrer Not Anwendungen wie Zoom oder Padlet genutzt, die datenschutztechnisch höchst problematisch sind. Wie will das Kultusministerium den Datenschutz beim Homeschooling künftig sicherstellen?
Piazolo: Natürlich müssen wir den Datenschutz immer wahren, das ist ein hohes Gut, gerade in diesem sensiblen Bereich. Damit sind andere Länder auch lockerer unterwegs."Zusätzliche Angebote in den Kernfächern"


Elternverbänden zufolge haben sich geschätzt 20 Prozent der Schüler seit März kaum mit schulischen Inhalten beschäftigt. Viele wurden aus technischen, sozialen oder sprachlichen Gründen abgehängt. Zudem war der Unterricht auf die Kernfächer konzentriert. Wie sollen die Lücken im Lernstoff aufgeholt werden?
Piazolo: Wir haben gesehen, dass das Lernen zuhause in einigen Bereichen gut funktioniert und in anderen nicht so gut. Unser Ziel im Herbst ist, die Schüler mit Lerndefiziten wieder an die Schule heranzuführen. In einer Phase des Ankommens soll festgestellt werden, welcher Stoff nicht so gut vermittelt werden konnte. Außerdem wird es zusätzliche Angebote in den Kernfächern geben, in welchen differenziert in Kleingruppen der Stoff aufgearbeitet wird.

Wollen Sie den Lehrplan ausdünnen oder nicht?
Piazolo: Erstmal muss man identifizieren, welche Lücken es gibt, und nicht pauschal für alle Schulen und Jahrgangsstufen etwas aus dem Lehrplan herausstreichen. Wir müssen die Schülerinnen und Schüler individuell fördern. Unser Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung wird den Schulen Best-Practice-Beispiele zur Verfügung stellen, mit denen die Lehrkräfte ihren Unterricht planen können. Wir vertrauen hier auf die große pädagogische Kompetenz vor Ort - die Lehrkräfte kennen ihre Schüler und wissen, welche die beste Herangehensweise ist und welchen Stoff sie im Vorjahr nicht geschafft haben.

Womöglich bleiben die Klassen geteilt, Zusatzangebote müssen gestemmt werden und viele Lehrkräfte gehören einer Risikogruppe an: Wie soll der Schulstart angesichts des ohnehin schon bestehenden Lehrermangels funktionieren?
Piazolo: Wir werden nicht alle Wahlangebote wie etwa AGs anbieten können. Auch mehrtägige Fahrten oder Großveranstaltungen dürften ausfallen, wodurch wir uns besser auf den Unterricht in den Kernfächern konzentrieren können. Klar ist: Die Lehrkräfte, die einer Risikogruppe angehören, sind weiterhin im Dienst. Lehrkräfte, die, beispielsweise mit einem Attest, keinen Präsenzunterricht geben dürfen, stehen für organisatorische Arbeiten, Korrekturen oder Digitalunterricht zur Verfügung. Unser Ziel ist es, die Unterrichtsversorgung ab September sicherzustellen - auch wenn wir uns auf verschiedene Szenarien einstellen müssen. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelingen wird.Frustrierte Elternbriefe


Viele Eltern haben Ihnen frustrierte Briefe geschrieben. Wie gehen Sie damit um?
Piazolo: Viele haben sich auch bedankt, dass wir alle Abschlussprüfungen und den Übertritt hingekriegt haben. Das war vorher höchst umstritten, das überhaupt durchzuführen, ohne dass es als "Corona-Abitur" verunglimpft wird. Von Eltern kommt von zwei Seiten Kritik: Manche Eltern fragen, warum immer noch Unterricht im Wechsel stattfinden muss - und andere sagen, es sei ein Unding, überhaupt Präsenzunterricht zuzulassen. Das ist in so einer Phase normal, ein unterschiedliches Risikoempfinden ist nachvollziehbar. Zudem ist es auch großer ein Unterschied, ob Gaststätten oder Schulen wieder öffnen - in die Gaststätten kann man freiwillig gehen oder auch nicht, wogegen es an den Schulen eine allgemeine Schulpflicht gibt.

Schulleiter beklagen, das Kultusministerium habe seine Schreiben oft am Freitag verschickt, und am Montag darauf sollte bereits alles umgesetzt werden.
Piazolo: Das Tempo ist überall erhöht, auch die Anforderungen an Flexibilität. Die Schulleiter stemmen diese Zeit bewundernswert, was von einer hohen Qualität und hohem Verantwortungsbewusstsein zeugt. Politische Entscheidungen wurden oft am Dienstag oder Mittwoch getroffen und dann in wenigen Tagen umgesetzt. Auch das Kultusministerium arbeitet so schnell und intensiv wie möglich.

− epd